«Jung & Alt»-Kolumne
Und wo bleibt da die alte weisse Frau?

In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 77, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche kritisiert Hasler das politisch gefärbte Wissenschaftsverständnis der Woke-Bewegung.

Ludwig Hasler
Ludwig Hasler
Drucken
Bei Neofeministinnen viel weniger häufig der Sündenbock als der alte weisse Mann: die alte weisse Frau.

Bei Neofeministinnen viel weniger häufig der Sündenbock als der alte weisse Mann: die alte weisse Frau.

Keystone

Liebe Samantha

Heute mal eine Runde Gesprächs-Analyse. Also ich beobachte kleine Mädchen, stelle fest, die sind irgendwie verspielter drauf als Buben. Du runzelst die Stirn, ist dir zu pauschal, zu schablonenhaft. Mädchen seien doch nicht anders als Buben. Nicht «per se», sagst du. Okay. Ich beobachte nur. Ich beobachte übrigens gern auch alte Frauen – und finde nicht selten: Die sind gar nicht von einem andern Stern, reden ganz ähnlich wie ihre Männer.

Du aber siehst nichts als alte Männer, für euch junge Neofeministinnen ist der alte weisse Mann der exklusive Obersündenbock, den ihr piesackt. Wo bleibt die alte weisse Frau? Seht ihr sie gar nicht? Wollt ihr sie nicht sehen? Hüllt ihr sie in die Figur der ewig leidenden Unschuld?

Ich nahm einen Anlauf mit Hirnforschung. Auch kein Glück. Vermeintliche Unterschiede der Geschlechter naturwissenschaftlich fixieren? Geht gar nicht. Sagst du. Mach ich das? Ich sage doch nicht: Frauen ticken anders, weil die Natur ihr Hirn speziell programmiert. Nein, ich sagte: Frauen bewährten sich in den letzten paar hundert Jahren in chaotischeren Situationen; das hinterlässt (wie alles) Spuren im Hirn (Corpus callosum), und damit könnten sie die Nase vorn haben, wo komplexe Lagen kreativ zu meistern sind.

Darüber liesse sich streiten. Du aber ziehst der Hirnforschung den Stecker, «der Wissenschaft» (ein Kind der jeweiligen «Kultur») gleich mit – jedenfalls für Befunde, die du nicht magst (Frauen = anders). Servierst mir gleichzeitig das 1000-jährige Wikinger-Skelett, das lange als Häuptling und Kämpfer durchging – und sich nun, dank DNA-Analyse, als Frau entpuppte. Interessant. Und aha: Frauen = nicht anders!

Heisst das jetzt: Wissenschaft sagt mal dies, mal jenes – je nach Kultur, aus der heraus sie agiert. Nein, sagt sie nicht. Sie erforscht nur mal archäologisch Wikinger, mal aktuell unser Hirn. Dabei spielen Weltbilder eine Rolle, aber sicher. Kulturelle, etwa feministische Neigungen wollen eher dies als jenes untersucht haben. Sogenannte Erkenntnisinte­ressen, klar, die wandeln sich. Die Befunde selber (Callosum, DNA-Check) aber müssen clean sein, frei von kulturellen Schlagseiten – so wie es auch keinen sozialdemokratischen Hochsprung gibt, bloss weil er in Arbeitersportvereinen gefördert ­wurde. Entsprechend gibt es keine patriarchale oder feministische Wissenschaft. Und wo doch, ist es nicht Wissen, sondern Marketing.

Hatten wir schon. Scientia als ancilla, als «Magd» des Glaubens, siehe Rom: Der Pontifex diktierte, was als Wissen durchging, was nicht (Galilei). Warum komme ich mir heute wieder in solch einer Kirche vor, wenn die Woke-Bewegung ihre Durchsagen macht?

Liegt das jetzt an mir?

Ludwig

Hinweis: Jung & Alt gibt es jetzt auch als Buch. Verlag Rüffer & Rub.

Weitere Episoden dieser Kolumne finden Sie hier: