In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unsere Autorin Samantha Zaugg, 26, alternierend mit Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist, 76. Diese Woche erklärt Hasler, warum er nicht jedes Tief im Leben als psychische Krankheit betrachtet.
Liebe Samantha
Was uns wirklich unterscheidet: die Frage «Die Jugend ist verweichlicht – na und?» kommt dir flott über die Lippen. Ich verschlucke mich derweil an einem Titel wie «Die Alten sind verknöchert – na und?».
Passt in dein Bild: Alte schlucken herunter, was sie piesackt, schweigen es aus. Vernachlässigen, was du «psychische Gesundheit» nennst. Möglich. Oder wir haben einfach gelernt, uns zu arrangieren – auch mit allerlei Tristessen. Weisst du, mit der Lebenserwartung steigt auch die Zahl der chronischen Lästigkeiten. Diabetes, Bluthochdruck, Arthritis, Rückenqualen, MS, Alzheimer. Krankheit wird öfter etwas, das man nie wieder loswird. Also damit leben. Wie am besten? Hätscheln? Ignorieren.
Klar, Mentalitäten ändern sich – aber ist die jüngste Version stets die schlauste? Neulich hörte ich von einem Schreiner, der zwei halbe Finger verlor, die Handchirurgie kam zu spät. Na ja, dachte ich, mein Vater war auch Schreiner, drei Finger seiner linken Hand waren weg, bevor ich zur Welt kam. Für ihn Berufsrisiko, kaum der Rede wert. Heute stürzt der Schreiner ab, Lebenskrise, Diagnose «posttraumatische Störung». An Arbeit ist nicht mehr zu denken. Eher an die IV. An Psychotherapie sowieso.
Die Fakten bleiben dieselben, die Deutung kommt voran: «posttraumatische Verbitterungsstörung». Allein das Vokabular kann einen flachlegen. Gelitten wird bereits am «Post-Holiday-Syndrom», im Ernst: Ferien zu Ende, zurück an der Arbeit – und bitter deprimiert. Wer ist schuld? Die unirdische Erwartung? Der Druck! Druck macht krank! Was hilft gegen Druck? Reden, sagst du. Gegendruck, sage ich.
Du sagst: Ihr begegnet eurem Zustand mit Diagnosen. Eben las ich von einer Olympiasiegerin, sie leide an «post-olympischer Depression». Verstehe ich sofort, ich weiss, wie es ist, nach Höhenflügen in ein Loch zu fallen. Aber muss das unbedingt zur «Diagnose» reifen, als «Krankheit» gelten? Wäre es nicht hilfreicher, es als Kater durchgehen zu lassen, der dem Siegesrausch folgt?
Total unglücklich ist Naomi Osaka, Tennis-Superstar. Versteh ich prompt. Das Leben von Tennisstars stelle ich mir grauenvoll vor. Gut zu wissen für uns kleinen Fische: Eine Welt-Nr. 1 ist verwundbar. Aber hilft es ihr, wenn alle Welt sie öffentlich als Vorbild für alle Unglücklichen verehrt?
Du merkst, es bleibt mir fremd. Auch weil ich ganz altmodisch eine hygienische Grenze ziehe zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Nicht wie in der Operette «Immer nur lächeln – wie’s da drin aussieht, geht niemand was an». Aber alle teilnehmen lassen an meinen Knörzen? Lächeln wäre taktvoller. Sogar heilsamer. Oder etwas tun. Etwas anderes als Tennis.
Ludwig