«Jung & Alt»-Kolumne
Minderheiten ja, aber nur wenn es Appenzeller sind

In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche sinniert Zaugg über die gutschweizerische halbdirekte Demokratie.

Samantha Zaugg
Samantha Zaugg
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Wir Schweizerinnen lieben Minderheiten und ihre Traditionen. Aber nur wenn es die richtigen Minderheiten sind.

Wir Schweizerinnen lieben Minderheiten und ihre Traditionen. Aber nur wenn es die richtigen Minderheiten sind.

Keystone

Lieber Ludwig

Ich fasse zusammen: Wenn es um Geschlecht geht, sei es das soziale oder biologische, sind wir uns ­uneinig. Du findest, es gibt zwei ­Geschlechter. Ich bin sicher, es gibt viel mehr und vor allem viel dazwischen. Geschlechtsidentität kann sich im Verlauf des Lebens auch ändern, ist fluid, in stetem Wandel.

Nun aber zu etwas anderem, das gar nicht im Wandel ist: die Wahl- und Stimmbeteiligung in der Schweiz. Die dümpelt sehr konstant bei 48 Prozent. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung entscheidet also für alle Menschen, die in der Schweiz leben. Tatsächlich ist die bestimmende Minderheit noch grösser, denn es sind längst nicht alle stimmberechtigt. Die Zahl der Stimmberechtigten ist wie die Wahlbeteiligung ebenfalls konstant. Seit den Siebzigern liegt sie bei rund 60 Prozent. Vorher war sie um etwa die Hälfte tiefer, weil die Frauen noch nicht abstimmen durften.

Geht man jedenfalls von einer ­Abstimmung mit typischer Stimmbeteiligung aus, so sind jeweils fast 70 Prozent der Menschen, die in der Schweiz leben, nicht repräsentiert. Und das ist doch erstaunlich. Leben wir doch in einer Demokratie, einem politischen System, in dem Entscheide vom Volk getragen werden. Aber wenn nur 30 Prozent des Volkes entscheiden, ist es noch eine ­Demokratie?

Und jetzt nehmen wir noch die demografische Verteilung in die Rechnung. In der Schweiz gibt es viel mehr alte als junge Menschen. Und die Jungen müssen mit den Entscheiden der Älteren länger leben. Ist das gerecht? Sollten die Stimmen der Jungen höher gewichtet werden? Quasi um diese Differenz auszugleichen?

Das Prinzip nennt sich Pluralwahlrecht. Die Idee gibt es schon lange, sie wird datiert auf Anfang des 19. Jahrhunderts. Und sie ist gar nicht so utopisch und weltfremd, wie es jetzt scheinen mag. In der Schweiz gibt es das sogar schon! Unsere Demokratie kennt das Ständemehr. Damit wollen wir kleineren Kantonen eine faire Stimme geben, den Föderalismus stützen. Dass zum Beispiel Appenzell nicht immer von den Zürchern überstimmt wird.

Ich fasse zusammen: Die Schweiz ist sehr gut darin, Minderheiten zu vertreten. Uns sind die Anliegen von Minderheiten wichtig. Aber nur, wenn die Minderheiten Kantone sind. Wenn es um junge Menschen geht, ist das anders. Mit dem groben Bleistift gezeichnet: Aus unserem politischen System lässt sich ablesen, dass uns die Anliegen von Appenzellern wichtiger sind als diejenigen von jungen Menschen.

Was hältst du davon? Ist das Pluralwahlrecht für Generationen eine Idee oder eher eine Schnapsidee?

Samantha

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