In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche geht es um die Frage, wie man Poesie für alle zugänglich machen kann.
Liebe Samantha
Rilke. Stundenbuch. «Geh bis an deiner Sehnsucht Rand.» Mit deinem Weihnachtsbrief hast du nicht nur mich erreicht. Er berührte eine Freundin, von der ich seit Jahren nichts gehört hatte; schon immer liest sie unseren Briefwechsel, doch jetzt, im Sog deines Rilke-Zitates, musste sie mir sogleich schreiben – in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Ich bilde mir nicht ein, am Rand ihrer Sehnsucht tauche ausgerechnet ich auf, gross und einsam. Aber mich erstaunt immer neu, wie mächtig so ein paar Gedichtzeilen bewegen können. Was sie in uns aufrühren. Irgendwie das höchst persönliche Leben, das sogenannt eigentliche, das Leben, das wir meist zudröhnen und feudal verpassen. «Eigentlich bin ich ganz anders», spottet Ödön von Horváth, «ich komme nur so selten dazu.» Wie denn das? Wollen wir ewig neben den Schuhen stehen? Wo uns doch insgeheim sofort klar ist, wie sehr wir exakt mit Rilke in unser Element kämen: «Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken.»
Du siehst, ich bin – für meine Verhältnisse – richtig begeistert. Ja, wir brauchen mehr Poesie. Nicht als Labsal für extra zarte Seelen. Eher als Stachel für vertrocknete Kreaturen, als Verführung, existenziell aufzudrehen – bis an den Rand der Sehnsucht. Wie aber arrangiert man so etwas? Rilke für alle? Schön wär’s. Absehbar ergreift Literatur keine Massen. Es müsste einfacher passieren, volkstümlicher, sinnlicher. Der Alltag müsste poetisiert werden. Geht das? Mit Festen à la Weihnachten? Klar. Schau nur, wie es Leute verwandelt, Konsumorgie hin oder her, noch Kotzbrocken schwärmen von «weissen Weihnachten», Ski fahren sie nicht, sie sehnen sich nach ein bisschen Poesie.
Und das Jahr hindurch, was liesse sich da poetisch anstellen? Spontaner Einfall: mehr Vögel. Mein Lokalblatt «Zolliker Bote» berichtet grad dies: Freiwillige pflanzten dem Pfannenstiel entlang Hecken aus einheimischen Sträuchern in die Landschaft, famose Naturoasen für Vögel aller Art, Goldammer, Rotkehlchen, Neuntöter, Drosseln, Distelfinken. Ein Fest für die Vögel – und die Poesie unserer Umwelt.
Denn: Vogelgezwitscher wirkt wie Musik. Für Schwerhörige gibt es Studien: Wer in vogelreicher Umgebung lebt, ist auffällig zufriedener, hat bessere Laune, fällt nicht so schnell in Sinnkrisen. Warum? Vögel machen uns vor, wie wir selber gerne wären: Sind jederzeit voll dabei, geben unermüdlich ihr Letztes, beim Singen, Nestbauen, Nachwuchsfüttern, total von innen her motiviert, alles ist Wille und Stolz und Lebenslust – bis die Katze sie frisst.
Attraktiv, oder? Animiert wie beste Poesie. Ich wundere mich selbst, doch am Rand meiner Sehnsucht erscheinen: Vögel.
Und bei Dir?
Ludwig