In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche geht es um die Frage, wie man sich bei philosophischer Orientierungslosigkeit neu aufstellen kann.
Lieber Ludwig,
Problemhaufen, wie du das nennst, ist ein sehr passendes Bild. Manchmal kann man sich in Probleme ja regelrecht versteigen. Jedes Problem, das man angeht, offenbart ein neues, die Probleme werden immer mehr und immer grösser. Man weiss gar nicht, wo anfangen, kein Ende in Sicht. Sisyphus kommt dir in den Sinn.
Durchaus passend. Doch wenn ich überlege, wie ich mich in solchen Situationen jeweils fühle, dann denke ich, der Sisyphus hatte es noch gut. Er wusste wenigstens, in welche Richtung sein Stein muss, nämlich nach oben. In der aktuellen Weltlage weiss ich manchmal nicht mal, wohin mit dem Stein. Nach oben? Nach unten? Auf die Seite? Und wo ist der Stein überhaupt? Wo bin ich? Bin ich am Ende selbst der Stein? Keine Ahnung. Dann denkt man, na gut, es spielt ohnehin alles keine Rolle, ich kann also grad so gut nichts machen. Das wäre dann Nihilismus, also die philosophische Anschauung von der Nichtigkeit des Seins.
An dieser Stelle ein Exkurs, der dich als Philosophen bestimmt interessiert: Nihilismus und Philosophie sind ja recht alt und recht Hochkultur. Nichts, von dem man denken würde, dass es junge Menschen interessiert. Doch das Gegenteil ist der Fall! Nihilistische Memes sind sehr beliebt, bilden quasi ein eigenes Genre. Memes, wir erinnern uns, Bilder im Internet mit lustigen Sprüchen. Dabei wird Nihilismus als philosophisches Konzept verhandelt, weiterentwickelt und auf die eigene Lebensrealität angewendet. Quasi schwarzer Humor mit Schopenhauer. Kann ich sehr empfehlen!
Aber du hattest mich nach Weihnachten gefragt. Und ich muss sagen, ich hab’ mit Weihnachten so meinen Krampf. Vor allem, wenn es ums Schreiben geht. Man sollte etwas Hoffnungsvolles schreiben, zumindest etwas mit Bedeutung. Und das fällt mir manchmal schwer. Stattdessen biete ich eine kuratorische Dienstleistung an. Einen Ausschnitt aus einem meiner liebsten Gedichte.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Lass dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen.
Es ist von Rilke, aus seinem «Stundenbuch», und heisst «Geh bis an deiner Sehnsucht Rand». Ich mag das Gedicht sehr gern, vor allem diese Passage. Ich lese daraus, dass jeder Moment, jedes Gefühl vorbeigeht. Alles Schöne geht vorbei, und das ist traurig. Doch auch alles Schwere geht vorbei, und das ist tröstlich. Alles ist in Bewegung, in steter Veränderung, nichts ist endgültig. Ein schöner Gedanke. Darum liebe ich Literatur und Kunst und Lyrik. Weil es ultimativ generationenübergreifend ist. Rilke ist eine ganz andere Generation als ich, sogar eine ganz andere als du. Und dennoch finde ich etwas in seiner Arbeit, das mich berührt, das ich auf mein Leben anwenden kann. In diesem Sinn, frohe Weihnachten!
Samantha