In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unsere Autorin Samantha Zaugg, 26, alternierend mit Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist, 76. Diese Woche erklärt Hasler, wieso wir Erfahrung mehr schätzen sollten.
Liebe Samantha
Mit Hämorrhoiden kann ich nicht dienen. Hörverluste, ja. Kurzatmigkeiten. Peanuts? Dann hast du recht: Dein Lieblingsthema «psychisch krank» bleibt mir «abstrakt». Suspekt sowieso. Typisch «harter alter Mann»? Ich sehe die Differenz eher da: Du willst die Seele kurieren, ich will sie animieren – frei nach Schopenhauer: «Es gibt kein Glück, ausser im Gebrauch meiner Kräfte.» Im Gebrauch. Nicht im Gesalbe.
Warum ich da sicher bin? Aus Erfahrung, Samantha. Wollte schon einmal darüber reden, du bist nicht eingestiegen. Jetzt muss es sein, denn: Erfahrung ist der Altersbonus. Unser biografischer Standortvorteil.
Ihr Jungen habt das frischere Wissen, kein Problem, ihr seid die aktuellste Ausgabe der Menschheit, euch gehört die Zukunft, mehr Elan habt ihr hoffentlich auch, dazu mehr Illusionen, alles unverzichtbar, wenn wir nicht verhocken wollen. Wir Alten haben Erfahrung zu bieten. Was bringt die?
Dazu eine Episode. Ich sass mit Beat Zoderer, dem Künstler, zusammen. Auf dem Tisch banale farbige Klarsichtmäppchen, er spielte mit ihnen, nur so nebenher, und siehe da: Sie gerieten zu sensationellen Kompositionen. An der Vernissage sprach eine Frau den Künstler an, die Werke fand sie grandios, den Preis erklärungsbedürftig: «Wie lange arbeiteten Sie denn daran?» Zoderer: «Vierzig Jahre.»
Genial. So läuft Erfahrung. Augen, die 40 Jahre auf Entdeckung waren – wach, listig, neugierig, findig – , solche Augen sehen mehr, sie erblicken schneller, worauf es ankommt. Lässt sich in keiner Schule lernen. Erfahrung kommt vom Leben, nicht vom Wissen. Wissen kann jeder erwerben, Erfahrung müssen wir machen. Das braucht Zeit und Interesse, darum: Wer länger (interessiert!) lebt, hat mehr erfahren. Heute verschulen wir alles, darum überschätzen wir Wissen. Und unterschätzen Erfahrung. Es gibt für sie keinen Bachelor, null Credit Points.
Entscheidend ist sie trotzdem. Nimm eine Ärztin, mit 26 frisch diplomiert, hat das kompakte jüngste Wissen intus. Ist sie eine tolle Ärztin? Sie ist approbierte Medizinerin. Dagegen die 62-jährige Ärztin, nicht mehr wild auf jede neue Studie, hat Tausende Patienten gesehen, untersucht, therapiert. Ihr Wissen ist lebens-, praxisgesättigt. Praxis heisst nicht: Studienwissen auf Einzelfälle herunterbrechen. Jede Patientin ist einzigartig, reagiert auf ihre Weise auf Therapie. Darum ist ärztliches Handeln kreativ, mehr Kunst als Wissen. Diese Kunst wächst mit Erfahrung.
Kurz und vorwärts: Könnten Jung und Alt nicht kreativer zusammenarbeiten? Im Konzert von frischem Wissen/jugendlichem Elan plus Erfahrung wären wir unschlagbar.
Ludwig