In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 77, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 27. Diese Woche erklärt Hasler, wieso er gegenüber «Wir sind alle gleich»-Parolen skeptisch eingestellt ist.
Liebe Samantha
Wie soll die Klitoris je zu ihrer Würdigung kommen, wenn wir weiter an alten Streitsachen herummachen, beide das letzte Wort haben wollen? Heute ich.
So flächendeckend, wie du Rassismus definierst, sind wir glatt alle Rassisten, bloss mit diverser Duftnote: nette Rassisten (Color ist cool), schlimme (Color go home), neutrale (Color where?). Und alle gehören bekehrt, bestraft, verboten? Und dann? Seid umschlungen, Millionen? Alle ein Herz, eine Seele? Ich mache mich jetzt unbeliebt und sage: Unsere Menschenwelt ist zu scheusslich, um allen um den Hals zu fallen. Weil uns manche sofort in den Rücken fallen. Also sollten wir uns vor andern – auch! – in Acht nehmen.
Wir kommen nun mal nicht als globalisierte Edelnomaden zur Welt. Sondern – ich zum Beispiel – als Luzerner, heftiger: als Möischterer, mit subkutan eingespielten Eigenheiten, mit Marotten und Reflexen – und damit automatisch mit Vorurteilen, ja Vorbehalten gegenüber anders Angelieferten, z.B. St. Gallern oder Frauenfelderinnen oder Kubanern oder Somalierinnen.
Ich halte das für normal, evolutionär für gesund: dass wir zunächst auf Selbstbehauptung machen, stolz auf unseren Dialekt, unsere Mentalität. Ohne Abgrenzung keine Identität. Halten wir andere dann für dümmer oder schwächer? Oh nein, im Gegenteil, wir trauen ihnen allerhand zu, auch dass sie uns einpacken könnten. Daher der Argwohn gegen romantische «Wir sind alle gleich»-Parolen. Siehe Fussball. Kommt der FC Luzern nach St. Gallen, verteidigt der Heimklub sein Revier mit allen Mitteln, mit reichlich Color, übrigens. Ist zumindest hier kein Problem. Der Konflikt liegt anderswo, im ewigen Hin und Her zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe. Macht und Angst. Eigenart und Fremdheit.
Zu archaisch? Du denkst, Anerkennung funktioniert am besten via Austausch und Verständigung? Okay. Und wo nicht? Der aktuell krasseste Fall: Putin samt Kleptokraten-Clique. Bis zum 23. Februar 2022 glaubten wir praktisch alle, die ticken irgendwie doch wie wir, denken ökonomisch, wollen vom Handel profitieren, lenken rational-pragmatisch ein. Stattdessen: imperialer Wahn, Hass auf liberale Lebensart, brutaler Wille zur Vernichtung alles «anderen».
Zureden zwecklos. Wer nicht hören will, muss fühlen. Da läge vielleicht – rein träumerisch – ein Korridor zu Klitoris, zu Sex, zur stärksten Lebensmacht. Im glücklichen Fall passiert im Sex ja etwas Unwahrscheinliches: dass ich mich dem andern total hingebe – und dabei wundersamerweise in meine eigene Ganzheit gerate. Der Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Angst vor Kontrollverlust wäre versöhnt, sogar lustvoll. Wozu dann bemächtigen wollen, was anders ist?
Kann Träumen helfen?
Ludwig