In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche denkt Zaugg über Widersprüche nach.
Lieber Ludwig
Müsste ich deinen letzten Brief zusammenfassen, würde ich ein Sprichwort vorschlagen: Jede ist des eigenen Glückes Schmiedin. Ich hatte kritisiert, dass zu wenig Leute wählen. Du sagtest, alle selber schuld, die nicht an die Urne gehen. Du siehst den Menschen als Individuum, das selbstständig agiert. Ich denke, dass es komplexer ist, dass wir Teil sind eines Systems, dass wir nur bedingt frei handeln können.
Ein Generationenthema? Vielleicht eher ein politisches. Politik oder politische Haltungen sind oft sehr eindeutig und dadurch auch uninteressant. Denn wenn etwas eindeutig erscheint, hat man meistens einfach noch nicht darüber nachgedacht. Denn eigentlich ist nichts eindeutig. Im Gegenteil. Das ist ja so was wie das Konzept des Lebens: Alles ist sehr kompliziert, und alles hat mit allem zu tun. Es ist sehr verworren und widersprüchlich, schlimm und schön, und das alles gleichzeitig. Das muss man aushalten. Und wenn man das gut kann, hat man eine hohe Ambiguitätstoleranz.
Ein tolles Wort, nicht wahr! Habe ich neulich gelernt und wollte ich dir nicht vorenthalten. Falls du es nicht schon kennst. Ich mag das ja, Wörter, die ein sehr spezifisches Problem beschreiben. Wie eben die Ambiguitätstoleranz, dass man mit Widersprüchen umgehen kann. Weisst du, wer hat mich auf die Widersprüche gebracht? Du! Weil du letztens mal Ödön von Horváth, den ungarischen Schriftsteller, zitiertest: «Ich bin eigentlich ganz anders, ich komm nur so selten dazu.» Das Zitat mochte ich sehr gern. Weil sich darin schon ein Widerspruch versteckt.
Jedenfalls kannte ich den Horvath nicht, aber das Zitat hat mich interessiert. Ich besorgte also ein Buch und hab nicht schlecht gestaunt: Die Themen waren aktueller denn je. «Jugend ohne Gott» behandelt unter anderem eine Form von Generationenkonflikt. Hermann Hesse sagte über das Buch, die Erzählung schneide quer durch den moralischen Weltzustand von heute. Und das Gleiche könnte man heute, fast hundert Jahre später, auch noch darüber sagen.
Ich war geistig sehr angeregt durch diese Lektüre, habe mich im Übrigen auch schlau gefühlt, weil ich Literatur konsumiere und sogar Spass dabei habe. Um mich dann vor den Fernseher zu setzen und eine Serie zu schauen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Nur so viel dazu: sehr einfach, sehr unkorrekt, sehr amerikanisch. Ziemlich das Gegenteil von Horváth. Dennoch war ich bestens unterhalten, genauso gut wie vom Buch. Ein Widerspruch? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich muss jedenfalls los. Fernseh schauen, ich hab noch ein paar Staffeln vor mir.
Zwei wichtige Fragen zum Schluss: Wo entdeckst du Widersprüche in deinem Handeln oder Denken? Und schaust du auch Serien? Oder wenigstens mal einen Film?
Samantha