«Jung & Alt»-Kolumne
Deine Meinung ist mir egal, dein Geschmack nicht

In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 77, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 27. Diese Woche erklärt Hasler, wieso der Geschmack entscheidender ist als Meinungen.

Ludwig Hasler
Ludwig Hasler
Drucken
Beim Gang durch den Möbelladen entbrennt bei einem gut harmonierenden Paar kein Streit.

Beim Gang durch den Möbelladen entbrennt bei einem gut harmonierenden Paar kein Streit.

Keystone

Liebe Samantha

Wird es garstig – ab in die Küche. Uralter Reflex. Neu ist dein Rezept, drinnen aufzukochen, was draussen nervte. Ich empfehle es gern weiter: Hallo Leute, Sie fühlen sich missverstanden, Sie finden, wir andern sind zu faul oder zu doof, auf Ihre Gedanken einzusteigen? Dann rühren Sie uns ein Gericht an, das jeder schafft, gern das simpelste Risotto. Bis jeder Depp kapiert: Qualität ist nicht gratis, kommt halt von Qual … Psychotherapie by Kochherd, fast umsonst.

Ändert nichts an unserem Patt. Du lässt mich in meiner Osterbegeisterung sitzen, ich dich auf deinem Rassismus-Kreuzzug – obwohl: Schaute gestern die Doku «Ella Fitzgerald», DIE Stimme für mich. Und nun hör ich: 60er-Jahre, Ella schon weltberühmt, fliegt zu Konzerten nach Australien, ein Zwischenstopp, man wirft sie, die Schwarze, raus, weil ein paar Weisse zusteigen. Aber jetzt: Norman Granz (Mann, weiss, nicht mehr jung!) verklagt die Airline, bekommt Recht. Bravo! Warum behalten wir nicht solche Taten in Erinnerung? Mut machen statt lamentieren. Kräftigen statt lähmen.

Finde ich. Du nicht? Kein Problem, wir machen sowieso weiter. Denn wo zwei derselben Meinung sind, ist einer überflüssig. Sagte Churchill, glaub ich. Also ich für Ostern, du gegen Rassismus, das passt. Gar nicht passt: wer nur für sich ist.

Hör mal, was Sergej Wladimirowitsch, der Schriftsteller in Charkiw, erzählt: «Meine Frau und ich sind fast nie einer Meinung, was toll ist. Sie ist im Allgemeinen pessimistisch, während ich optimistisch bin. Zusammen sind wir realistisch.» Wunderbar. Wie armselig dagegen, wer es überall nur mit seiner eigenen Meinung aushält. In Frankreich gingen viele nicht wählen, weil sie sich mit keinem Kandidaten «identifizieren» konnten. Muss ich mich mit dir identifizieren, um mich mit dir zu unterhalten? Was gäbe es da noch zu reden?

Was ist schon eine Meinung? Sie ist ja nur «mein», also sicher nicht die Wahrheit, schon gar nicht die Welt. So ein Mensch besteht aus viel mehr als aus seiner Meinung, hoffentlich. Früher sagte ich gern: Ich könnte problemlos mit einer Frau zusammenleben, auch wenn sie politisch oft anderer Meinung wäre; käme sie aber eines Tages mit einer Lampe nach Hause, die ich scheusslich fände, könnte das der Anfang vom Ende sein.

Überspitzt, klar. Sollte heissen: Meinungen sind Oberflächenphänomene, wankelmütig. Der Geschmack aber, so etwas wie der Stil läuft subkutan, wie die Handschrift, das Lachen, die Art, wie wir uns bewegen, weil wir das alles nicht kontrollieren. So ging ich (jung, unsicher), wenn ich eine Frau kennen lernte, gern mit ihr durchs Warenhaus, Möbel kommentierend. Danach war manches klarer.

Worauf achtest du, wenn du jemandem begegnest?

Ludwig

Hinweis: Jung & Alt gibt es jetzt auch als Buch. Verlag Rüffer & Rub.

Weitere Episoden dieser Kolumne finden Sie hier: