In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 77, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche steht hier kein Lead, Frau Zaugg erledigt das später.
Lieber Ludwig
Da haben wir scheints etwas gemeinsam. Wir beide können nicht einfach nur sein, einfach nichts machen. Dieses Nichtsmachen, das kann ich tatsächlich nicht so gut. Was ich dafür sehr gut kann: Etwas anderes machen, als ich eigentlich sollte. Ich spreche vom Prokrastinieren, von Aufschieben, Vertagen.
Ein Beispiel? Ich sollte irgendwas erledigen, etwas schreiben. Aber der Text will nicht so richtig gut werden, irgendwas klemmt ein bisschen. Jedenfalls mache ich zuerst einfach mal was anderes. Kleinere Haushaltsarbeiten etwa. Hinter dem Heizkörper sauber machen, Bilder neu hängen oder eine Zimmerpflanze umtopfen. Eine Tätigkeit ist für solche Fälle allerdings am allerbesten geeignet. Am liebsten ist es mir, etwas auszuräumen. Wenn nötig sortieren und putzen und dann wieder einräumen. Die Besteckschublade zum Beispiel. Grad neulich wieder passiert. Ich räume die Schublade aus, putze sie, auch die einzelnen Fächer. Dann überlege ich, ob ich die Messer mal in ein anderes Fach legen soll. Entscheide mich dagegen und sortiere alles wieder ein, wie’s vorher war. Zufrieden betrachte ich mein Tagewerk.
Es ist aber immer noch nicht genug prokrastiniert. Also beschliesse ich, das Tafelsilber zu polieren. Dann merke ich, dass ich gar kein Tafelsilber besitze. Einen kurzen Moment denke ich darüber nach, welches anzuschaffen. Ich schaue also im Internet, was so was gebraucht kostet. Voilà, eine Garnitur, 86 Teile, für 129 Franken. Braucht Madame Tafelsilber in ihrem Haushalt? Ich fühle mich zwar kultiviert, dennoch verwerfe ich den Gedanken wieder. Was soll ich mit zwölf Gabeln? So viele Gäste passen nicht mal in meine Wohnung. Ausserdem ist Silberbesteck vielleicht doch ein bisschen bourgeois.
Du magst jetzt denken, ich möchte einen Ratschlag. Wie man das mit dem Prokrastinieren hinter sich lassen kann. Wie man es loswird und nur noch tugendhaft und effizient ist. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich halte das lustvolle Aufschieben nicht für ein Laster. Vielmehr ist es eine Haltung, eine Lebenseinstellung, vielleicht sogar eine Kunstform. Ich beherrsche sie noch nicht bis zur Perfektion. Aber ich bin schon recht gut. Es ist nämlich ein schmaler Grat. Ein bisschen Disziplin gehört dazu. Es gilt zu differenzieren: Ist es nötig, dass ich meine Gedanken etwas schweifen lasse? Oder habe ich einfach keine Lust?
Meine entspannte, ja geradezu grosszügige Haltung zum Prokrastinieren ist eher neu. Bis vor kurzem dachte ich, es sei etwas, was man überwinden muss. Aber ich glaube, ich bin dabei, meine Meinung zu ändern. Dennoch habe ich den Eindruck, das ist etwas, was alte Menschen nicht machen. Alte kennen keinen Müssiggang. Sei ehrlich: Schiebst du Dinge vor dir her?
Samantha
Hinweis: Jung & Alt gibt es jetzt auch als Buch. Verlag Rüffer & Rub.