In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 77, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche denkt Hasler über den nie endenden Drang des Menschen nach noch mehr nach.
Liebe Samantha
Ja sicher, Lesen ist das erfolgreichere Reisen. Wer liest, kann weiter kommen, als wer (touristisch) ausschwärmt. Weil: Reich macht, was wir selber erfinden. Nicht, was wir besichtigen, kaufen, konsumieren. Ist wie im Sport: Selber rennen macht glücklicher als zuschauen. Aber selber rennen strengt doch krass an?! Eben, der Flow wächst am Widerstand. Wie beim Lesen. Wir kaufen nichts als Buchstaben. Die Bilder dazu erschaffen wir selber, Figuren, Erzählungen, Dramen dito.
Meine Frage war: Reist ihr Jungen denn tatsächlich schlauer? Deine Antwort: Nein, alle reisen gleich – wir holen von auswärts die Bilder heim, auf die unsere Sehnsüchte programmiert sind. Na dann. Bei euch Jungen versteh ich es ja noch. Doch wir Alten? Gar nie genug von diesem Theater? Mich wundert überhaupt die auffällige Unersättlichkeit im Alter. Immer noch ein Schnitzel. Noch ein Schwingfest. Und noch einmal Teneriffa. Nie satt?
Ich war mal eingeladen, an einer Tagung «Dentalmedizin für Alte» zu reden. Da zirkulierte dauernd die Floskel «80/20-Norm», es dauerte eine Zeit lang, bis ich merkte: Aha, noch mit 80 soll der Mensch einen Anspruch auf 20 gesunde Zähne haben, mindestens. Heimlich begann ich zu zählen – und zu fragen: Wie kommt die Dentalbranche darauf, wir Alten bräuchten ohne Ende etwas zu beissen, zu kauen, zu verdauen? Regt sich da die Altersorge – oder das Brancheninteresse? Müssen unsere Zähne zwingend unseren Geist überleben? Für spätere archäologische Forschungszwecke? Jedenfalls änderte ich ad hoc mein Abschlussreferat, stellte es unter die Titelfrage: «Bis(s) zum Ende?»
Die Komik lebt von der Ungereimtheit: Unsere Gefrässigkeit überfordert unsere körperlichen Konditionen. Es geht uns wie dem Mann im Witz, den der Regisseur Billy Wilder erzählte, als er grad 90 wurde. Achtung, unkorrekt: «Ein Mann geht zum Arzt. – Der Arzt: Was fehlt Ihnen? – Ich kann nicht mehr pinkeln. – Arzt: Wie alt sind Sie? – 90. – Arzt: Dann haben Sie genug gepinkelt.»
Genug? Bloss das nicht. Auch ich hab solche Anfälle. In München lief soeben die Europameisterschaft der Leichtathleten. Vor bald 60 Jahren dilettierte ich selber in ein paar Disziplinen. Jetzt vor dem Fernseher stachelte mein Körper: Hey, lass uns ein paar Trainings einschalten – und wir sind wieder drin im Rennen! Komplett irr – und schwer abzustellen. Da ist ein Antrieb, der gehört gar nicht mir, der macht, was er will, rein biologisch, der will, dass ich mitziehe, im Wettbewerb bleibe.
Ich frag mich, wie das von aussen aussieht. Wirkt der Typ, der mit bald 80 hinter denselben Bedürfnissen her ist wie mit 45, nur komisch? Unverwüstlich? Als Jugendkarikatur? Null Alterswürde? Unfähig zur Grandezza, unwillig, einfach zu SEIN?
Ludwig
Hinweis: Jung & Alt gibt es jetzt auch als Buch. Verlag Rüffer & Rub.