Die Philosophin Kristina Steimer erklärt, warum das digitale Porträt ein wertvoller Bestandteil unserer Bildungskultur ist.
Teenager knipsen sich ständig mit dem Smartphone. Wächst da eine Generation von Narzisstinnen und Narzissten heran?
Kristina Steimer: Ach was! Die Logik hinter einer solchen Argumentation erinnert an das 16. Jahrhundert, als die Taschenspiegel in Mode kamen. «Diese jungen Frauen, die in aller Öffentlichkeit in den Spiegel schauen – sogar in Kirchen –, die sind ja des Teufels.» Pathologisierungen dieser Art sind weder zutreffend noch hilfreich.
Eine Umfrage unter Schönheitschirurgen ergab: 55 Prozent ihrer Patientinnen wollen sich operieren lassen, um dem Idealbild von Selfies zu entsprechen.
Natürlich birgt das Genre Risiken, etwa im Hinblick auf die eigene Körperwahrnehmung. Bei Selfies werden häufig Widersprüche zwischen Anspruch und sozialer Realität deutlich, zwischen dem Ausdruck von Einzigartigkeit und Stereotypie. Was mir aber wichtig erscheint: Bei Selfies geht es auch um Selbstermächtigung.
Wie meinen Sie das?
Der Blick in die Kamera ist ein bisschen wie der Blick in einen Spiegel, der entwicklungspsychologisch eng mit der Identitätsentwicklung verknüpft ist. Ein Kleinkind hält sein Spiegelbild zunächst für eine fremde Person. Irgendwann aber erkennt es sich. Das wiederum ist die Voraussetzung, um der Welt und sich selbst später durch Selfies mitteilen zu können: Hier bin ich. Und: Das bin ich.
Wird ein Selfie erst durch das Hochladen ins Internet zum Selfie oder bereits beim Knipsen?
Dazu gibt es in der Fachwelt eine breite Debatte: Ist das Selfie primär ein Selbstporträt? Oder sind Selfies in erster Linie Werkzeuge zur Kommunikation und müssen daher genuin hochgeladen und geteilt werden? Die Existenzphilosophie, mein Forschungsfeld, geht davon aus, dass der Mensch immer schon zu anderen in Beziehung steht, bevor er zu sich selbst in einen Bezug kommt. Auch wenn wir ein Selfie nicht hochladen, denken wir demnach Betrachterinnen und Beobachter bereits beim Aufnehmen mit.
Es macht einen Unterschied, ob ein Selfie für die riesige Online-Community sichtbar wird oder nicht. Ab welchem Alter sollte man Kindern erlauben, Fotos von sich zu posten?
Inwieweit Heranwachsende überhaupt in sozialen Medien aktiv sein sollten, ist nicht nur unter Juristen umstritten. Datenschutzfragen oder Fürsorgepflichten stehen im Spannungsfeld mit dem «Recht auf Teilhabe». Wichtig erscheint mir, dass Eltern oder Lehrkräfte diese Herausforderungen gemeinsam mit den Kindern annehmen.
Glauben Sie, die 12-jährige Tochter schätzt es, wenn der Vater beim Posten von Selfies hilft?
Ein schwieriges Thema. Aber wir kommen um solche Fragen nicht mehr herum, auch durch die Digitalisierung des Schulbetriebs in der Coronapandemie. Hat ein Kind erst mal ein Smartphone, ist meist auch das erste Selfie bald da.
Britische Psychologen sagen: Wer sechs Selfies und mehr pro Tag postet, leidet unter «Selfitis» – an Selfie-Sucht.
Es gibt mit Sicherheit Einzelfälle, bei denen das Posten solcher Fotos zum Zwang wird. Doch eine spezifische Kommunikations- oder Ausdrucksform allgemein an eine psychiatrische Diagnose zu koppeln, scheint mir mehr eine Stigmatisierung als ein produktiver Beitrag zum Diskurs zu sein.
Wer besonders viele Likes haben will, sollte sich leicht von oben fotografieren, weil das «schlanker macht» – und im Idealfall vor dem Kolosseum in Rom?
Das Kolosseum ist in der Tat einer der «most instagramable» Orte der Welt. Inzwischen werden Klischees bewusst gebrochen und als unvorteilhaft geltende Aufnahmewinkel oder Körperformen gezeigt, um Stereotype zu hinterfragen: die Hashtags #nofilter oder #bodypositivity sind Beispiele hierfür.
Wird der Hype um Selfies bald wieder abflauen?
Nein. Selfies sind kein kurzlebiges, künstlich aufgebauschtes Phänomen. Selfies antworten auf ein menschliches Grundbedürfnis: danach zu fragen, wer wir sind, uns dies greifbar und mitteilbar zu machen. Ein Bedürfnis, das bis zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückreicht. Wenn Sie so wollen, sind digitale Pinnwände die neuen Felswände und Selfies die gegenwärtige Form steinzeitlicher Höhlenkunst.