Weshalb Ausdauer und Langmut die Super-Tugenden sind, Kinder sie unbedingt lernen sollten – und Eltern erst recht.
Kuli-Klicken. Knie-Wibbeln. Danach folgen: Seufzen, aus dem Fenster gucken und Finger-Knibbeln. Langfädiges raubt mir den Nerv. Mäandernde Konferenzen, trantütige Kassiererinnen, Dia-Abende – alles eine spezielle Art von Nahtoderfahrung. Das war schon immer so. Meine Schulzeit – eine Kette von klicken, wippen, knibbeln. Unnötig zu erwähnen, dass ich mein Töchterchen häufig hetze und Bussen wegen – kleiner! – Geschwindigkeitsübertretungen fix in meinem Budget einzuplanen sind. Kurz: Ich habe keine Geduld. Und das ist schlecht.
Denn Geduld, beweisen zahllose Studien, ist die Top-Tugend, die Königsdisziplin der Erziehung, ja, die Hauptzutat für ein gelingendes Leben.
Dabei hat sie gerade einen eher mässigen Ruf. «Ungeduld» fungiert zum Beispiel in Vorstellungsgesprächen immer noch als schlechte Eigenschaft mit Sexappeal. Hyperaktivität und Burn-out sind Krankheiten im zackigen Zeitgeist. 3 Minuten 30, länger sollte kein Song im Radio mehr dauern. Lange Filmeinstellungen werden vorgespult. Die Kassenschlange am Supermarkt wechseln, Aktien beim ersten Schwächeln verkaufen und trödelnde 3-Jährige drängeln. Das mag zwar alles in eine Zeit passen, in der Menschen wie Flipperkugeln herumsausen. Bringen tut es nichts.
Geduld schlägt Aktionismus. Berühmt ist das «Marshmallow-Experiment» des Harvard-Professors Walter Mischel. Mischel wollte in den 60er- und 70er-Jahren eigentlich «Warte-Strategien» vier- bis sechsjähriger Kinder erforschen. Also herausfinden, was sie so tun, während sie einer Belohnung harren. Zu dem Zweck wurde ihnen ein Marshmallow hingelegt und gesagt, sie könnten es sofort essen, oder aber, wenn sie es bis zur Rückkehr des Versuchsleiters nicht ässen, anschliessend zwei Marshmallows bekommen.
Er fand im Laufe von Nachfolgeforschungen Jahrzehnte später zusätzlich heraus, dass Kinder, die es geschafft hatten, das Marshmallow nicht zu verputzen, als Jugendliche bessere Schulleistungen erbrachten, im Erwachsenenalter häufiger Karriere machten, ihre gesteckten Ziele erreichten und insgesamt Stress sinnvoller händeln konnten.
2018 wurde das Marshmallow-Experiment zwar kritisiert, weil mit einer sehr gemischten Gruppe von Kindern die Gedulds-Ergebnisse nicht mit dem späteren Erfolg zusammenhingen. Studienautor Tyler Watts vermutet, dass Schule und Elternhaus einen viel grösseren Einfluss darauf haben, wie sich jemand entwickelt als das Abschneiden im Marshmallow-Test als Kindergartenkind.
Doch andere Wissenschaftler fanden Weiteres heraus: Dass erwachsene, geduldige und frustrationstolerante Menschen ein Bedürfnis besser aufschieben können und weniger rauchen und trinken, zudem seltener dick, spielsüchtig und drogenabhängig werden. Sie sparen mehr Geld, scheiden sich seltener und kommen seltener ins Gefängnis.
Wobei «Gut Ding braucht Weil» weder Aussitzen, Fatalismus noch Däumchendrehen meint, sondern: langfristiges Denken und zugunsten eines Ziels, das in der Zukunft liegt, in der Gegenwart die eine oder andere Kröte zu schlucken.
Denn: «Geduld» kann im Leben als Joker fungieren. Ausdauer und Ruhe schlagen sogar Intelligenz. Neuseeländische Langzeituntersuchungen an 1000 Probanden ergaben nämlich, dass geduldige, aber etwas weniger intelligente Menschen in den meisten Lebensbereichen genauso erfolgreich, oft sogar erfolgreicher waren als ungeduldige intelligente Menschen.
«Bildungsökonomisch ist das ein hochinteressanter Befund», findet Matthias Sutter, Professor für Verhaltensökonomie an den Universitäten Innsbruck und Köln und Direktor am Max-Planck-Institut Bonn. Bislang sei man ja davon ausgegangen, dass primär Intelligenz und Herkunft entscheidend für Schul- und Lebenserfolg seien. Diese beiden Grössen jedoch stehen weitestgehend fest, da lässt sich nicht viel dran drehen. Sutter schwärmt:
«Wenn es aber so ist, dass Geduld viel Einfluss hat und sie sich zudem im Kindes- und Jugendalter erlernen und trainieren lässt, dann entstünden Chancen für Kinder aus weniger privilegierten Elternhäusern und für Kinder, die kognitiv weniger brillieren.»
Erwiesen ist zwar wie gesagt, dass das Vorbild geduldiger Eltern zu geduldigeren Kindern führt und Zuverlässigkeit von Mutter und Vater den langen Atem fördert. Doch besonderen Anlass zu Hoffnungen geben Studien von Sule Alan und Seda Ertac in der Türkei.
Die beiden Wissenschaftlerinnen machten mit 9- bis 10-Jährigen gezieltes Geduldstraining: Eine Gruppe wurde nachmittags normal unterrichtet, eine andere beschäftigte sich über Monate in unterschiedlichster Form mit Gedankenexperimenten. Etwa: Ein Mädchen hätte gerne ein Velo für ihren langen Schulweg. Wie wird sie sich fühlen, wenn sie ihr Taschengeld für Süssigkeiten und Kino ausgibt? Wie wird es sein, wenn sie ihr Taschengeld spart und davon das Velo kauft?
Das Ergebnis: Die Kinder der Gedankenexperiments-Gruppe waren auch nach Abschluss des Projekts dauerhaft besser in der Lage, langfristige Folgen von Verhalten abzuschätzen und sie besuchten – drei Jahre nach dem Gedulds-Unterricht – signifikant häufiger eine höhere Schulform als die normal unterrichtete Gruppe.
Wenn also Ausdauer und langfristiges Denken das A und O für Erfolg sind, setzen dann möglicherweise Gymi-Vorbereitungskurse, Nachhilfestunden, die gängige Förderung benachteiligter Schüler und so manche Unterrichtsstunde an der falschen Stelle an? Ist ein 3000-Teile-Puzzle nicht totgeschlagene, sondern klug investierte Zeit? Sollte es in der Schule häufiger «Angeln statt Algebra» heissen und zu Hause «ruhig Blut» statt «hopp, hopp»? Möglicherweise.
● Aufgaben-Buch schreiben: Studien zeigen, dass das zu mehr Effizienz, aber auch mehr Ausdauer führt.
● Die Aussen-Ansicht ist immer rationaler: Was täte ich also, wenn ich X wäre?
● Routine: Wenn erst aus faden Pflichten Gewohnheiten geworden sind, braucht es weniger Geduld wie bei regelmässig Sport. Massstab: Der bei Ungeduldigen beliebte Satz «Ich erwarte von anderen nicht mehr, als ich von mir selber erwarte», sollte mit der Frage gekoppelt werden, ob der andere das überhaupt leisten kann und dieselben Prioritäten hat.
● Herausfordern: Ungeduld entsteht zuweilen durch Unterforderung. Also echte Herausforderungen suchen.
● Üben. Geduld erfordernde Situationen trainieren. Aufploppendes E-Mail nicht sofort anschauen. Yoga eine zweite Chance geben. An der längsten Supermarktkasse anstellen …
● Weggehen. Raus aus der Situation, bevor es eskaliert.
Dies ist ein Beitrag aus «wir eltern».