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Der Westschweizer Matthias Bruggmann war mehrmals in Syrien. Seine Bilder im Musée de l’Elysée in Lausanne zeugen von der Gewalt und von der Normalität in einem Land im Krieg. Vor dem Inhalt der Ausstellung wird gewarnt.
Am Eingang hängt ein Schild, das vor dem Inhalt der Ausstellung warnt. Junge oder unvorbereitete Personen könnten verstört werden. Dann folgt pro Wand ein Bild. Zwei Grossformate fallen besonders auf, gegenüberliegend in einem grossen Raum zeigen sie denselben Platz des Damaszener Stadtteils Daraja. Das Erste zeigt eine Fontäne aus Gestein, Staub und Rauch. Das Resultat einer eingeschlagenen Granate? Menschen in schmutzigen Kleidern rennen davon. Im Vordergrund liegt etwas am Boden, das brennt. Gegenüber die Auflösung, die Szene danach: Noch immer züngeln Flammen, doch der Rauch hat sich fast verzogen. Techniker stehen herum, Kameramänner, Schauspieler mit Waffen. In der Bildmitte schlendert der Regisseur davon. Die beiden Fotos stammen von Aufnahmen für einen Propagandafilm der syrischen Regierung.
Matthias Bruggmann: Es ist die Realität der Kriegspropaganda. Auf Film-Sets zu fotografieren, war ein Weg, um über Propaganda zu sprechen, also die Konstruktion von Information in einem totalitären Staat. Besonders seitens des syrischen Regimes gibt es eine gewaltige Propagandaindustrie.
Mit der Ausstellung wollten wir explizit Raum geben zur Diskussion. Ohne Bildlegenden gibt es Möglichkeiten zur Interpretation. Ein Betrachter sieht ein Bild, denkt sich eine Geschichte dazu aus, liest in der Broschüre nach, und seine Sichtweise ändert sich. Ein anderer Besucher interpretiert das Bild komplett anders. Das fördert den Austausch. Aber ich weiss, wir fordern dem Besucher viel ab. Auf den ersten Blick wird ihm nicht klar, dass er vor einer Aufnahme eines Drehorts steht. Andere Bilder wiederum stammen aus Gefechten, zeigen echte Tote. Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb ich auch auf Film-Sets fotografierte.
Es war ein Weg, ein Quartier wie Daraja überhaupt zu erreichen. Der Stadtteil in Damaskus wurde durch Bombardements arg in Mitleidenschaft gezogen. Die Zerstörung auf den Bildern ist ja echt. Doch für mich als Fotograf wäre es ohne diese Filmarbeiten kaum möglich gewesen, die Aufnahmen zu machen.
Das Publikum soll darüber entscheiden. Ich bin überzeugt, in der Fotografie gibt es kein Schwarz und Weiss, wenn es um Dokumentarisches, Journalistisches und Kunst geht. Es gibt Graustufen.
Klar, etwas ist aber äusserst wichtig für mich: Das Ergebnis meiner Arbeit wird gezeigt in der Presse. Meine Fotos können also als Dokument verwendet werden und erfüllen die Standards von World Press Photo. Meine Arbeit respektiert sämtliche Regeln, ich baue nichts auf, ich konstruiere nichts. Das, was der deutsche Journalist Relotius getan hat, ist äusserst gefährlich und auch sehr dumm.
Es stimmt, doch es ist schwierig zu verifizieren. In einer perfekten Welt könnte man zurückgehen in dieses Dorf und herumfragen nach diesem Mann. Und mit den Leuten sprechen, die idealerweise auch mit einem sprechen. So könnte man das nachvollziehen. Leider sind die Bedingungen in einem Bürgerkriegsland aber nicht ideal zur Überprüfung von Information.
Weil mich das Thema beschäftigt. Wir haben es mit einem Verlust an Vertrauen in Individuen zu tun, der sehr gefährlich ist.
Klar, heute ist die Situation so: Nicht einmal wenn 50 Leute Aufnahmen von Chemieangriffen gemacht haben, glauben wir, dass solche Angriffe auch tatsächlich stattgefunden haben. Einst reichte dazu eine einzige Fotografie. Dem Fotografen, der dieses Dokument erzeugt hatte, vertraute man. Später war es eine Zeitung, eine Medienmarke, der man vertraute. Ein einzelner Fotograf reicht heute leider nicht mehr. Die Annahme, die dem zugrunde liegt, ist aber sehr gefährlich. Sie besagt eigentlich: Das Individuum zählt nichts. Doch ohne Individuum keine Demokratie.
Der Mann auf dem Bild war der Anführer des sunnitischen Stamms der Shaitat, der sich zunächst gegen die Regierung auflehnte und sich dem IS anschloss, ehe er sich wieder von ihm abwandte. Der IS ahndete die Abkehr der Shaitat mit einem der blutigsten Massaker überhaupt. Bis zu 1200 Shaitat-Angehörige fanden den Tod. Als Rache verbündete sich ein Teil der Shaitat-Kämpfer wieder mit dem syrischen Regime und bekämpfte den IS fortan. Unter ihnen der Mann auf dem Bild. Er trug diese Aufnahme mit sich und gab sie mir. Die Toten im Sand waren IS-Krieger, und sie sind von den Shaitat enthauptet worden. Der Shaitat-Anführer selbst starb im August 2015 im Kampf gegen den IS.
Das Schlimmste ist eher die politische Gewalt. Sie müssen verstehen, physische Gewalt ist eine Funktion in solchen Systemen. Das System selbst und sein Umfeld sind äusserst gewaltreich. Zu sehen, wie Menschen zu bösen Menschen werden in einem solchen Umfeld, das ist ebenso schlimm wie der Anblick von im Krieg getöteten Menschen.
Ja, es ist das Bild eines jungen Mannes, der gefesselt und mit verbundenen Augen in einem Raum kniet. Eine Miliz beschuldigte den Mann der IS-Mitgliedschaft. Er soll für das Massaker an einer Familie mitverantwortlich gewesen sein. Sie haben ihn in diesen Raum gesperrt vor seiner Befragung. Das Foto zeigt ihn im Moment danach. Er ist ganz allein. Tränen kullern über sein Gesicht. Es wirkt, als wäre ihm soeben klar geworden, in welcher Situation er steckt und dass sie ihn wahrscheinlich töten werden.
Ich weiss es nicht. Ich fragte nach. Ein Teil der Leute sagte mir, man habe ihn zur Regierung gebracht. Der andere sagte, man habe ihn laufen lassen.
Ich war in Damaskus und geriet in eine Situation, in der ich nicht Nein sagen konnte. Im Krieg gerät man in solche Situationen. Dann ist man dazu verdammt, zu fotografieren, weil es riskant wäre, sich dagegen zu sträuben. Jedenfalls war ich mit Schreibenden unterwegs, und die Behörden sagten uns, sie hätten Terroristen auf die Verhörabteilung einer Einheit des militärischen Sicherheitsdienstes gebracht. Sie wollten uns dabeihaben. Wie gesagt, ich wollte eigentlich nicht da sein, konnte aber nicht anders. Der junge Mann hiess Abdelkarim und war 19 Jahre jung. Er trug Foltermale an Händen und Füssen. Das war im März 2014.
Die Eltern wurden später darüber informiert, dass ihr Sohn im Juli 2014 in Haft gestorben war. Seinen Leichnam gab die Regierung aber nie frei.
Dann, wenn meine Präsenz die Leute vor mir beeinträchtigt. Das ist meine einzige Grenze, und hier sollte die Grenze unbedingt liegen. Also auch wenn Kämpfer posieren und cool wirken wollen für die Kamera, dann muss man unbedingt stopp sagen. Denn das kann ganz schnell drehen und wegen der Kamera beginnen die Männer Grenzen zu überschreiten, die sie ohne Anwesenheit der Kamera nicht überschreiten würden. Sie beginnen also zum Beispiel damit, Gefangene zu misshandeln. Klar habe ich gegenüber den Subjekten und den Betrachtern eine Verantwortung. Doch Gewalt ist für mich kein Grund zu stoppen, nur Gewalt extra für die Kamera.
Ich halte es aber für keine gute Idee, die Betrachter vor der Gewalt eines Konfliktes schützen zu wollen. Und ich glaube, dass es dumm ist, dem Prinzip zu folgen, die Leser sollen zum Lesen der Zeitung ihre Cornflakes essen können. Die Darstellung von Gewalt darf zwar nicht systematisch sein, das wäre ebenso falsch. Aber es soll eine Möglichkeit sein.
Oftmals sind es Familienmitglieder oder Freunde von Opfern, die einen bitten, sie zu fotografieren. Bei meinen Bildern mit den schwerwiegendsten Gewaltdarstellungen war das der Fall. Gerade in Syrien ist es so: Du kannst nicht einfach reinkommen und drauflosfotografieren ohne Einverständnis. Tust du das, bist du schnell tot.
Ja, schon. Aber als Fremder bist du in einem Land wie Syrien, in dem die Gastfreundschaft extrem hoch gewichtet wird, generell recht gut geschützt. Trotzdem bist du immer wieder unter jungen bewaffneten Männern, die nervös sind und die durch schwierige Zeiten gehen. Dessen muss man sich bewusst sein. Und meine Angst ist nicht mit derjenigen der Einheimischen vergleichbar.
Ich bin nicht derselben Gefahr asugesetzt. Erstens, wie erwähnt, weil ich als Gast respektiert werde. Zweitens bin ich als Westler respektive Schweizer mobil. Ich kann das Land ziemlich schnell wieder verlassen oder zumindest an einen sicheren Ort wechseln. Und drittens sind es auch nicht meine Familie, mein Umfeld, mein Geschäft oder mein Haus, die zerstört werden. Ich bin auch nicht verheiratet und habe keine Kinder.
Nein, ich bin nicht einer, der sich nach Risiko und Strapazen sehnt. Der Krieg ist nicht mein Zuhause, das ist die Schweiz. Hier in Lausanne fühle ich mich wohl.
Viele meiner Kollegen haben Kinder. Doch solange ich tue, was ich tue, möchte ich keine Kinder haben.