Berühmte Wanderung
Die Tour du Mont Blanc: Schöner als den Berg zu besteigen, ist es, ihn zu umrunden

Es muss nicht immer der Gipfel sein: Die Tour du Mont Blanc führt in zehn Tagesetappen rund um den höchsten Berg der Alpen und bietet einen fantastischen Strauss an Eindrücken.

Rainer Sommerhalder
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Die Tour du Mont Blanc dreht sich im wahrsten Sinne des Wortes um den höchsten Berg der Alpen.
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In Argentière nahe der Schweizer Grenze beginnt das Abenteuer.
Der Anstieg wird immer steiler.
Felsen sind für einen echten Bergwanderer kein Hindernis.
Die Kletterei wird mit einem herrlichen Blick ins Tal der Arve belohnt.
Die Berghütte am Lac Blanc bietet Schutz vor dem garstigen Wetter.
Die Gartenwirtschaft hat es an diesem Tag nicht besonders streng.
Der Lac Blanc auf 2352 Metern über Meer am Rande der Schneefallgrenze.
Die vielen Gäste stossen auch bei den Einheimischen auf Interesse.
Seen sind auf der Tour du Mont Blanc eine gern gesehene Attraktion. Hier der Lac du Miage.
Es dürfen auch mehrere Seen aufs Mal sein.
Oder ein ganzes Tal mit Wasser.
Höhenwege mit prächtiger Aussicht gehören ebenso zur Tour du Mont Blanc...
...wie bizarre Felsformationen...
...imposante Gletscher...
...und idyllische Täler wie das Val Ferret bei Courmayeur.
Der Blick auf die Eingangspforte zum Mont-Blanc-Tunnel, der das italienische Courmayeur mit Chamonix verbindet.
Auch spannende Begegnungen gehören zur Charakteristik der Fernwanderung. Eine kanadische Reisegruppe...
...und ein schwer bepackter einheimischer Maulesel, der die Passhöhe erreicht.

Die Tour du Mont Blanc dreht sich im wahrsten Sinne des Wortes um den höchsten Berg der Alpen.

Bild: Rainer Sommerhalder

Was war nun eigentlich der Höhepunkt dieser Mehrtageswanderung? Vielleicht die spektakulären Metall-Leitern von Argentière hoch zum Lac Blanc. Dort, wo der Pfad seinen Weg an den vielen Felsen vorbei nicht mehr findet, überwindet er sie vertikal. Wer nicht schwindelfrei ist, schafft es auch. Aber zumindest aus dieser Perspektive ist der Begriff Höhepunkt relativ.

Vielleicht der Mont Blanc selbst. Immerhin ist das gewaltige Bergmassiv während den zehn Wandertagen der treuste Begleiter. 4807 Meter misst der Gipfel aktuell. Da der höchste Punkt des Granitfelsens von einer bis zu 50 Meter dicken Schnee- und Eisschicht umschlossen ist, variiert die Höhenangabe von Messung zu Messung. Und auch zum Grenzverlauf gibt es verschiedene Interpretationen. Die Franzosen sehen den Mont Blanc als ihren Gipfel, für die Italiener ist der Grenzpunkt exakt am höchsten Ort.

Der Mont Blanc lässt sich von derlei geopolitischen Gezanke nicht aus der Ruhe bringen. Schliesslich hat er primär Repräsentationsaufgaben für die vielen Besucher aus aller Welt wahrzunehmen. Und zeigt dabei durchaus unterschiedliche Gesichter. Im Norden dominiert das Weiss. Die Anzahl der Gletscher ist aussergewöhnlich, das «Mer de Glace» deren Königin. Und die Höhenlage bewirkt, dass sich das Eis im Gegensatz zum allgemeinen Trend in den vergangenen 150 Jahren kaum zurückgezogen hat.

Schon die Römer und viele Schmuggler waren Berggänger

Auf der Südseite zeigt sich der Mont Blanc gerne nackig. Beeindruckende Felswände geben dem numerischen Höhenunterschied zwischen dem Tal und dem Berg ein Gesicht. Einziger Wermutstropfen für die Naturliebhaber ist, dass sich die Eroberung dieses Monuments unserer Erde längst nicht mehr nur auf Bergsteigerinnen und Bergsteiger beschränkt. Bahn um Bahn bringen selbst die Flip-Flop-Touristen an allen Ecken und Enden in luftige Höhen. Nicht nur optisch trüben die Masten und Geleise den Gesamteindruck.

Oder war das Beste der Fernwanderung die Pässe? Auch sie stehen bei der Tour du Mont Blanc täglich auf dem Programm. Und lassen sich nicht so einfach wie Susten, Klausen oder Furka mit dem Auto bezwingen. Viereinhalb Stunden lang ist der Aufstieg zum Col du Bonhomme auf 2400 Metern. Es ist ein alter Schmugglerpfad der Römer. Der Steinweg im unteren Teil der Steigung erinnert eindrücklich daran.

Gut zu Wissen

Anbieter: Die individuelle Tour wird vom Spezialisten Eurotrek in drei Varianten angeboten. Der Basispreis der kompletten Tour mit elf Nächten im Doppelzimmer (3-Sterne-Hotels) inklusive Frühstück, Gepäcktransport, zwei Transfers sowie ausführliche Reiseunterlagen und Kartenmaterial beträgt 1749 Franken. Die Saison ist ab Juni bis Ende September. Möglich sind je auch siebentägige Touren «West» (1019 Franken) sowie «Ost» (1089 Franken).

Organisation: Die Tour dauert zwölf Tage (zehn Wandertage) und startet ab Martigny. Es ist auch möglich, nur einen Teil der Tour zu absolvieren. Übernachtet wird in Hotels in den Ortschaften auf der Route. Das Gepäck wird von Unterkunft zu Unterkunft transportiert.

Voraussetzung: Die Tagesetappen mit teilweise beträchtlichen Höhendifferenzen sind anspruchsvoll und bedingen einer guten Grundkondition. Bei einigen ausgesetzten Passagen sind Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich.

Weitere Touren: Eurotrek hat insgesamt knapp 200 Mehrtageswanderungen im Angebot – die Hälfte davon in der Schweiz. Neben dem Kassenschlager «Tour du Mont Blanc» gehört auch die «Via Alpina» zu den populärsten Touren. Auf dem Weg zwischen Liechtenstein und dem Genfer See sind verschieden lange Teilstücke buchbar.

Gleich dreimal ist ein Pass auch Grenzstation. Auf dem Col de Balme verlässt man die Schweiz und erreicht Frankreich. Der Col de la Seigne verbindet Frankreich und Italien. Und der Col Ferret bedeutet für Heimatliebende die Rückkehr aus Italien in die gelobte Schweiz. Ein Covid-Zertifikat braucht es hier in luftigen Höhen bis zu 2600 Meter für den Grenzübertritt nur theoretisch.

Bild: Rainer Sommerhalder

Wer das Element Wasser mag, der wird die Bergbäche und Gletscherseen zu den persönlichen Favoriten zählen. Einmal benötigt es gar eine abenteuerliche Hängebrücke, um den tosenden Fluss zu überqueren. Oft jedoch plätschert das Wasser lieblich zu Tale. Und die Sedimente des Mont Blanc verleihen den Seen einzigartige und wechselnde Farben. Wasser ist ein treuer Begleiter auf der Rundwanderung. Bisweilen bedeckt es ganze Talböden. Und so lange es nicht von oben kommt, durchaus ein weiterer Höhepunkt der zehn Tage.

Wer Gesellschaft und einen Kaffee liebt, der wird sich an die Bergsteigerhütten erinnern. Nicht zu knapp warten sie am Wegesrand auf Besucher. Sie sind Treffpunkt von Gleichgesinnten und verkörpern eine Art urchige Gastfreundschaft. Am Stammtisch – in Berghütten gibt es eigentlich nur Stammtische – kann man herrlich darüber sinnieren, dass diese Bauwerke weltweit den gleichen Charakter ausstrahlen. Völkerverbindend sind hier oben auch die Gespräche. Ob das Gegenüber nun Bankdirektor oder Putzhilfe ist, interessiert niemanden.

Stinkende Socken und exquisites Flair

Vor lauter Landschaft kann vielleicht auch die Abwechslung entzücken. Am Abend, unten im Tal, treffen die Bergwanderin und der Bergwanderer auf die mondäne Welt der Touristik. Die noblen Skiorte Chamonix und Courmayeur versprühen einen Glanz, der tagsüber gänzlich fernbleibt. Wenn im Gourmetrestaurant die feuchten Wandersocken unter dem Tisch hervor qualmen, mag man sich zwar fragen, ob das passt. Aber ein wenig exquisites Flair als Hauch von Kontrast zum zehntägigen Naturerlebnis darf es sein. Wie für die arabischen Scheichs die Goldschicht auf einem guten Stück Fleisch.

Wieso Berufsoptimisten am Berg nicht gefragt sind.

Die wichtigste Erkenntnis einer elftägigen Fernwanderung im Hochgebirge? Hören Sie auf ihre Partnerin oder ihren Partner! Beim Packen war mein wichtigster Vorsatz, die warnende Stimme meiner Frau im Hintergrund zu ignorieren. «Nimm unbedingt ein zweites Paar Wanderschuhe mit. Hast du Blasenpflaster? Stöcke helfen dir beim Auf- und Abstieg. Glaubst du wirklich, dein alter Hund hält diese Tour aus? Nimm Mütze und Handschuhe mit.»

Was soll’s. Mein Glas ist halbvoll, ich bin zuversichtlich. Stöcke zum Wandern sind etwas für Alte, Blasen an den Füssen hatte ich seit Jahren nicht mehr und meine Schuhe sind für alle Anforderungen gewappnet. Die Tour de Mont Blanc (TMB) weckte meinen Ehrgeiz und meine alten Instinkte als Ausdauersportler. Optimierung hiess das Zauberwort. So wenig Gepäck wie nötig, so fokussiert aufs Wesentliche wie möglich. Quasi «reduced to the max» am Berg.

So weit die Theorie. Und welche Einsichten lassen sich nach rund 170 Kilometern Bergwandern mit 10 000 Metern Steigung aus der Praxis gewinnen?

Die Erkenntnisse daraus:

  1. Selbst ein wander- und joggingerprobter Border Collie ist mit 13 Jahren ein alter Hund. Er hat dies vor seinem Begleiter gemerkt und bereits am ersten Tag ein vorher nicht auftretendes Hinken entwickelt. Dies nennt man offensichtlich den sechsten Sinn. Denn mindestens zwei Etappen der TMB sind für Vierbeiner definitiv nicht geeignet. Kommt hinzu, dass man an mehreren Tagen durch Naturschutzgebiete wandert, in denen Hunde explizit verboten sind. 
  2. In den Bergen kann schlechtes Wetter auch Mitte September Kälte und Schnee bedeuten. Meine minimalistische Bekleidung ist weder wärmespendend noch wasserfest. Nach fünf Stunden Wanderzeit bin ich von Kopf bis Fuss durchnässt. Die Kleidung sollte also auf verschiedene Szenarien ausgerichtet sein.
  3. Auf Unvorhergesehenes vorbereitet sein. Dass am Schluss einer 18 Kilometer langen, anstrengenden Wanderung die Seilbahn ins Tal unplanmässig nicht fährt, kann man Pech oder Schicksal nennen. Dass beim folgenden 1100 Meter Downhillwandern mit bereits ermüdeter Muskulatur die Knie nachhaltig zu schmerzen beginnen, wird mich die Hälfte der Tour begleiten. Ein Königreich für zwei Wanderstöcke!
  4. Der Hinweis der Verkäuferin, die teuersten Wanderschuhe meines Lebens richtig einzulaufen, verflüchtigt sich im anstehenden 1500-Meter-Anstieg auf den Gipfel. Nach drei Kilometern kraxeln macht sich die Blase an der linken Ferse, zwei Kilometer später auch jene an der rechten Ferse unangenehm bemerkbar. Immerhin lenkt das von den Knieschmerzen ab. Abhilfe schafft der Blasenpflasterkauf in der Apotheke am Abend. So richtig gut geht es meinen Füssen aber erst nach dem alten Grenadiertrick meines Schwiegervaters aus der Rekrutenschule. Damenstrümpfe unter den Wandersocken verhinderen das reiben an den betroffenen Stellen.
  5. Mein Berufsoptimismus hat mich zu einem hausgemachten Leidenden verwandelt. Und zu einem armen Schlucker: Stöcke, Handschuhe, Blasenpflaster und Wanderschuhe sind in den Touristenorten definitiv teurer als zuhause im Keller.

Und was war nun der persönliche Höhepunkt der Tour du Mont Blanc? Ganz einfach die Stille, die Einsamkeit. Stundenlang durch die wunderbare Idylle des Val Veny oder des Val Ferrets marschieren. Kaum je wird die Ruhe von einem anderen Menschen gestört, höchstens eine Gemse am Wegesrand oder ein beim Speck anfressen gestörtes Murmeltier sagen hallo. Dazu die Bilder dieser beeindruckenden und sich stets verändernden Umgebung. Wandern kann hinreissend meditativ sein.

Bild: Rainer Sommerhalder

In Corona-Zeiten ist dieses Erlebnis erst recht möglich. Denn die vergangenen Monate haben einen Trend gebrochen, der von vielen nicht ohne Sorgenfalten beobachtet wird. Die Tour du Mont Blanc ist so etwas wie der Rolls Royce unter den Berg-Fernwanderungen und hat längst eine weltweite Anziehungskraft. Jährlich absolvierten noch vor kurzem Tausende die TMB, wie es überall auf den Wegzeichen heisst. Die Nordamerikaner sind längst da und seit einigen Jahren kommen auch die Gäste aus Asien in Scharen. Gruppen von chinesischen Touristinnen und Touristen mieten sich einen Bergführer und absolvieren die Rundwanderung als eine Art Überlebenstraining.

Die Besucher kommen nicht bei allen Einheimischen gut an. Und dabei geht es selten um Fremdenfeindlichkeit, sondern vielmehr um die Kultur, wie mit der Natur umgegangen wird. Wer sich hier oben im Angesicht der Königin der Berge bewegt, der sollte keine Spuren hinterlassen. Doch genau davon gibt es immer mehr. Schilder am Wegesrand in der totalen Abgeschiedenheit, man solle doch den Pfad nicht verlassen, lassen erahnen, wie es hier noch vor kurzem zu und hergegangen ist.

Eine exklusive Gelegenheit auf ein wenig Stille

Zumindest in den kommenden zwei Jahre wird die frühere Exklusivität der Tour de Mont Blanc angesichts fehlender Gäste aus vielen Teilen der Welt wieder greifen. Ein idealer Zeitpunkt für passionierte Wanderer, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Tolle Höhenwege, Gratwanderungen, fordernde Auf- und Abstiege warten auf dieser Mehrtagestour. Aktivferien, welche der Veranstalter zu Recht als «eines der grössten Abenteuer, das man in den Alpen erleben kann» bezeichnet. Und wer will schon auf den Gipfel, wenn er erkennt, was es beim Marsch rundherum alles zu entdecken gibt.