In die Pariser Nächte kommt Leben: Die Cabarets öffnen ihre Tore, die Dating-Plattformen boomen, und sogar die Modeschauen entdecken die Liebe.
Als ginge ein leichtes Vibrieren, ein Knistern durch Paris. Das Frühlingserwachen kann es nicht sein: Auf den Boulevards fallen die ersten Blätter. Und doch: Es kehrt langsam das Leben in die Lichterstadt zurück, und mit ihm die Sinnenfreude. «Paris, ein Fest des Lebens», wie Hemingway sagte.
Und ein Fest der Liebe. Erstmals seit anderthalb Jahren sind diese und die letzte Woche 20 von 84 Modemarken zur ersten Pariser «Fashion week» der Post-Covid-Ära an die Seine zurückgekehrt. Endlich wieder ein richtiger Laufsteg, endlich wieder der Geruch von Schminke zu lauter Elektromusik, ja endlich wieder kleine Schreie des Entzückens, als das Model von Saint-Laurent einen schwarzen Smoking mit blauen Handschuhen vorführt.
Und erst die Blitzlichter, als Catherine Deneuve, Carla Bruni und Charlotte Gainsbourg aus dunklen Limousinen stiegen, um das Défilé vor der atemberaubenden Kulisse von Trocadero und Eiffelturm zu verfolgen. Zum Abschluss der Kollektion Frühling/Sommer 2022 gedachte die Modebranche mit einem kollektiven Défilé des Stardesigners Alber Elbaz, der an Covid verstorben war. Das Thema lautete: «Liebe bringt Liebe.»
L’Amour schreibt sich in Paris wieder mit einem grossen A – auch in den Revuetheatern. Das Lido an den Champs-Élysées hat seine Pforten soeben wieder geöffnet. Auch am Moulin Rouge drehen sich wieder die legendären Windflügel. Die Gäste aus Amerika und Asien kehren zwar nur zögernd zurück, doch die Pariserinnen und Pariser, ausgehwilliger denn je, springen in die Lücke.
Im Crazy Horse wird aus der Liebe Erotik. Die Tänzerinnen mit dem Pagenschnitt üben zum letzten Mal Hoch-das-Bein (welches gemäss Hausregel doppelt so lang wie die Büste zu sein hat). Auch Daniela hat den ganzen Sommer über trainiert, oft in einem Ruhezimmer des Krankenhauses in Aulnay-sous-Bois nordöstlich von Paris, wo sie unter der Woche arbeitet. Vor einem Jahr, auf dem Höhepunkt der Pandemie, hatte sich die selbstlose Krankenschwester von sich aus zum Notfalldienst gemeldet, um den beatmeten Covidkranken beizustehen. In wenigen Tagen wird die 32-jährige Französin aus einem der verruchtesten Banlieue-Orte ihr Doppelleben wieder aufnehmen – Krankenschwester Daniela am Tag, Crazy-Horse-Tänzerin alias Tina Tobago in der Nacht.
Es ist ganz bestimmt kein Zufall: An der Pariser Oper hatte dieser Tage Donizettis «Liebeselixir» Premiere. Am vergangenen Samstag organisierte die Stadt eine «Nuit Blanche», eine kulturelle Freinacht. Es gab etwa eine Rollerdisco im 16. Arrondissement oder eine «erotische Nacht» in der Cité de la musique, wo die Tänzerin Kaori Ito ein Stück namens «Steck mich in Brand» vorführte.
Die bekanntesten Pariser Bars und Klubs, Tatort der eloquenten Pariser «dragueurs» (Aufreisser), sind wieder gerammelt voll. An die letzten achtzehn Monate erinnern sich die Wirte nur noch wie an einen Albtraum. Ein Viertel der Pariser Nachtlokale musste die Bilanz hinterlegen. Ähnlich viele haben die Covid-Pause zu Renovationen benutzt, einige sogar, indem sie im Gebäude eine Dachterrasse zum Verschnaufen geschaffen haben. Nichts ist in Paris derzeit trendiger als ein Rooftop.
Und die übrigen Lokale? Sie haben geschmeidig von der Behördenkategorie «Typ P» (Diskothek) zu «Typ N» (Restaurant, Bars) gewechselt. Offiziell ganz ohne Tanzbetrieb. Dann stellten sie einen Wächter an, der Alarm zu schlagen hatte, wenn die Nachtstreife anrückte. In diesem Fall ging das Licht an, die Musik wurde gedämpft und die Tanzbühne mit Tischchen verdeckt. Wenn die Flics hereinkamen, trugen alle brav die Schutzmaske, wie ein Stammkunde der Bar Le Germain der Illustrierten «Paris-Match» schilderte.
Jetzt kehren die grossen Pariser Nachtlokale zum «Typ P» zurück und werden für alle zugänglich, zumindest mit Gesundheitszertifikat und Maske. Sehr sexy ist das ja nicht. Das Internet-Dating erlebt dafür seit dem Covid-Beginn einen neuen Boom. Auf Plattformen wie DisonsDemain («Sagen wir morgen») oder AdopteUnMec (frei übersetzt: «Schnapp dir einen Kerl»), aber auch auf den bekannten Singlebörsen von Meetic, Badoo oder Tinder liest man Annoncen wie: «Bonjour, ich heisse Sarah, ich suche die Liebe und bin geimpft.» Vereinzelt kann man in seinem Profil auch ankreuzen, wenn man geimpft ist.
Wenn sich zwei Kreuzchen verabreden wollen, ist da noch die Frage: Wie begrüsst man sich beim ersten Rendezvous? Bei dem beliebten Treffpunkt am Eingang Ost des Jardin du Luxembourg sieht man alle möglichen Varianten, begleitet von einem leicht betretenen Lachen: Ellbogen gegen Faust, Offene Hand gegen gefaltete Hände, oder die fast schon vergessene «bise» – mit oder ohne Maske.
Im Inneren des Stadtparks, wo sich junge Paare auf den Bänken früher richtiggehend verzehrt hatten, sitzt man nun im keuschen Abstand auf den grünen Bänken. Es sind meist Internet-Dating-Pärchen – die Pariser «Amoureux» der Covid-Ära. Man freut sich, scherzt und zeigt sich bei Gelegenheit das Impfzertifikat. Oder man trällert zusammen das Chanson von Joe Dassin: «Lange her, dass ich nicht mehr hierher gekommen bin, in den Jardin du Luxembourg.»