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Die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert hat über ihren Brustkrebs geschrieben – doch nicht nur davon erzählt «Tage wie Hunde».
Zürich, Kreis 4, ein Bürogebäude. Gegensprechanlage, Türsummer, Lift in den dritten Stock. An der Glastür wartet Ruth Schweikert, 53, – sie wirkt zart in ihrer Frühlingsbluse und bittet in die Kaffeeküche. Hier sitzen wir einander auf Barhockern am Hochtisch gegenüber, Leute kommen herein, holen etwas aus dem Kühlschrank, gehen wieder. Die Schriftstellerin arbeitet in einer Bürogemeinschaft. Vor drei Jahren, als bei ihr Krebs diagnostiziert wurde, hat sie ihr damaliges Home Office verlassen und sich «unter die Leute» begeben. Während des Interviews bleibt die Tür offen.
Ruth Schweikert: Das war der Tag, an dem ich meine Brustkrebs-Diagnose bekam. Ich beschreibe die Minuten des Wartens, bevor die Ärztin anruft, die Momente der höchsten Anspannung, Momente der Freiheit auch vor der Diagnose, die ja erst einmal eine Festschreibung bedeutet, der man sich nur schwer entziehen kann.
Es gibt die Ungewissheit, in der man auch nach Operation und Therapien hängen bleibt; diese Ungewissheit ist Teil des Lebens selbst, aber man empfindet sie stärker in und nach einer solchen Krankheit. Ich wollte dem Ausdruck geben, auch in der formalen Gestaltung des Textes. Der griechische Philosoph Aristoteles hat gesagt, dass sogar Geschichten über das Sterben und den Tod eine Schönheit eignet, einfach deshalb, weil man sie erzählen kann. Beim Geschichtenerzählen arbeitet man ja mit ästhetischen Mitteln, mit der Klanglichkeit, mit Assoziationen und Alliterationen, mit dem Rhythmus vor allem, der für mich immer sehr wichtig war und bleibt.
Diese Spannung besteht beim Schreiben eigentlich immer, man muss sie aushalten und produktiv machen für den Text. Krebs ist der Inbegriff des formlos Wuchernden; ganz im Gegenteil dazu habe ich als Schriftstellerin Freude am Formen und am Geformten, am gründlich Durchgedachten, an Gedankensplittern, die ich dann schleife, und nochmals und nochmals und nochmals schleife. Das ist es, was ich der Krankheit entgegensetzen konnte. Es gibt in meinem Buch aber auch die Analogie zum unkontrollierten Zellwachstum, was sich etwa in formlosen Mails voller Sprach- und Tippfehler zeigt.
Mir ist aufgefallen, dass immer vom Kämpfen die Rede ist, von einem Kampf, den man gewinnen kann oder verlieren. «Francine Jordi hat den Krebs besiegt!» – «Mit vereinten Kräften besiegen wir den Krebs!» Da kommen übrigens die Hunde ins Spiel. Es heisst, sie könnten riechen, dass jemand Krebs hat. Man versucht nun tatsächlich, Hunde darauf abzurichten, Krebs zu diagnostizieren. Es wird von «bösartigen» und von «gutartigen» Tumoren gesprochen, als ob es sich dabei nicht um biologische, sondern um moralische Kategorien handelte.
Das Moralische klingt bis heute nach. «Das hast du nicht verdient» – diesen Satz haben mehrere Leute zu mir gesagt, nachdem ich die Diagnose erhalten hatte. Das hat mich irritiert. Natürlich gibt es Ursache und Wirkung, aber die meisten Krebserkrankungen sind damit nicht erklärbar. Ich weiss, es ist nicht einfach, das Zufällige unserer Existenz zu akzeptieren, das Fragile. Mir fiel es sehr schwer, anzuerkennen, wie viel Hybris dabei war in der Vorstellung meiner eigenen Stärke, die ich vor der Diagnose hatte.
Es geht mir gut soweit, und ich fühle mich lebendig in dem, was ich tue und plane. Aber Heilung? Ich weiss nicht.
Nicht unbedingt. Ich hätte mich durchaus dafür entscheiden können, die Brust abnehmen zu lassen, aber die Frage stand in meinem Fall gar nie zur Debatte; die Strahlentherapie hatte prognostisch denselben Effekt wie die Entfernung der betroffenen Brust. Allerdings empfand ich die Strahlentherapie als sehr belastend. Hier spielt die Eitelkeit der Ärzte hinein: Die Brust retten können, nur eine ganz kleine, «schöne» Narbe zu hinterlassen, das heisst auch, weibliche Schönheit zu erhalten. Darauf sind sie stolz.
Ich verstehe das, wenn die eigene Mutter mit 56 an Brustkrebs stirbt und Gentests die BRCA-Mutation nachweisen, sodass sie selber mit Brustkrebs rechnen musste. Nun hat Angelina Jolie den perfekten Busen bis an ihr Lebensende – sicher hat sie sich die besten künstlichen Brüste geleistet, die es gibt –, sie werden nicht wirklich altern, nicht schlaff und faltig werden. Und das ist dann doch wieder etwas sonderbar.
Es brauchte keinen Mut, es war eher stimmungsabhängig. Ich habe mich in dieser Zeit auch mit Perücke, im hübschen Kleidchen gezeigt. An anderen Tagen war mir danach, so aufzutreten, wie ich gerade war: mit ultrakurzen Haaren. Es gab kein Programm.
Mit Perücke bekam ich wiederholt Komplimente für meine gute Frisur, das kommt im Buch vor. Offenbar hatte ich davor keine richtige Frisur gehabt, das hat mich amüsiert.
Ah, das, ja. Ich, über 50, mit Brustkrebs, in der Chemotherapie, und der Typ findet mich attraktiv, das hat mir einerseits geschmeichelt, andererseits war es mir zuwider. Aber ich war in dem Moment nicht in der Lage, angemessen zu reagieren.
Nun, ihm zu sagen: Hör mal, ist ja nett, dass dir mein Arsch gefällt, aber lass die Finger davon, das ist ein Übergriff.
Ich fühlte mich wehrlos ja, wehrloser als normalerweise in solchen Fällen, dem Geschehen ausgesetzt.
Ruth Schweikert, geboren 1965 in Lörrach, wuchs in Aarau auf und lebt heute mit ihrem Mann, dem Dokumentarfilmer Eric Bergkraut, und fünf Söhnen in Zürich. Nach einer Theaterausbildung und einem abgebrochenen Germanistikstudium hat sie 1994 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Mit ihrem ersten Buch, «Erdnüsse. Totschlagen», hat sie sich sogleich einen Namen gemacht. Nebst einem Theaterstück veröffentlichte Schweikert sechs weitere Prosawerke – darunter drei Romane – sowie zahlreiche Beiträge in Anthologien und Zeitschriften. Ebenfalls zahlreich sind die Preise, die sie erhielt, 2016 etwa den Schweizer Literaturpreis und den Solothurner Literaturpreis. Im selben Jahr erkrankte sie
an Brustkrebs. Nun erscheint ihre Auseinandersetzung mit der Krankheit unter dem Titel «Tage wie Hunde». (tu)
Es gibt mehrere Todesfälle in dem Buch; mein Vater stirbt als alter Mann, das Kleinkind stirbt; es gibt Verweise auf Werner Morlang, der kurz vor meiner Diagnose gestorben ist, Verweise auch auf Walter Matthias Diggelmann, von dem ich per Zufall einen Brief gefunden habe. Aber die Geschichte dieses Kindes ist sozusagen als ganze erzählt, kontinuierlich, sie ist eigentlich ein Essay. Ich wollte mit verschiedenen Textformen arbeiten, mit Nähe und Entfernung auch zu der Krankheit. Was ist das Leben? Man wohnt der Beerdigung eines Kindes bei und fragt sich, warum es dieses Kind getroffen hat und nicht das eigene, aber es gibt keine Erklärung dafür.
Mir ist durch meine Erkrankung zumindest bewusst geworden, wie normal es für uns ist, dass man versucht, jedes Leben zu fast jedem Lebenszeitpunkt zu retten. «Selbstverständlich tun wir alles erdenklich Mögliche, Frau Schweikert!» Dabei wissen wir ganz genau, dass ein Menschenleben anderswo sehr wenig wert ist – genau genommen nichts. Die Behandlung meiner Krankheit hat über 50 000 Franken gekostet. Warum ist das so selbstverständlich? Wer sagt, dass mein Leben so viel wert ist?
«La littérature ne s’impose pas – elle s’expose», sagte Paul Celan. Ich liefere mich nicht aus, ich teile mich mit. Das Mitteilen, das Teilen von Erfahrungen gehört zum Beruf der Schriftstellerin – als Beitrag zu Hannah Arendts «unaufhörlichem Gespräch», das in Demokratien wie der unseren unverzichtbar ist.
In gewisser Weise schon. Es sind sprachlich geformte Gedanken, daran können wir uns halten. Die Zeit macht vergessen, was einst gesagt wurde. Wenn ich zitiere, kann ich Gedanken einen neuen Auftritt verschaffen, sie erneut wirken lassen. In meinem Buch geht es mir nicht nur um meine persönliche Krankheitsgeschichte, sondern ums Nachdenken über das Leben und den Tod.