Startseite
Kultur
Der britische Pophistoriker Simon Reynolds spricht im Interview mit der «Schweiz am Wochenende» über den Hang zur Nostalgie und über innovative Musik
Simon Reynolds, in Ihrem Buch «Retromania» behaupten Sie, die Obsession mit der Vergangenheit verhindere Innovation in der Popkultur.
Simon Reynolds: Ja, damit bezog ich mich auf die Entwicklungen in den Nullerjahren. Die Subkultur orientierte sich an der Vergangenheit, selbst hippe, alternative Genres blickten zurück. Ganz anders in meiner Jugend, da zählte der Spirit, Neues zu schaffen, in die Zukunft zu blicken, von Punk bis Disco. Im neuen Jahrtausend aber wurde zurückgeschaut, Klänge und Stile aus der Vergangenheit nachgebildet.
Wir erinnern uns, etwa an die Killers mit ihren flirrenden 80er-Sounds oder an den Retrosoul von Amy Winehouse und Adele.
Ja, das sind gute Beispiele für den Mainstream. Aber auch weniger bekannte Musiker wie Aerial Pink setzten darauf. Ich fühlte mich beschämt, weil so viel an eine Replika erinnerte, so stark wie nie zuvor seit den Sixties, denn ob Jimi Hendrix, die Beatles, Kate Bush, Kraftwerk oder Yello, immer wieder wollten die Musiker zu neuen Ufern aufbrechen, die neuste Technologie, das neuste Studioequipment einbinden. Die ganze Retromanie aber kulminierte 2013 schliesslich im Album «Random Memory Access» von Daft Punk. Einst innovativ, imitierten sie plötzlich die Eurodisco-Musik der 1970er. Sie schafften es nicht, im Jahr 2013 mit einem neuen Sound aufzuwarten. Ein Armutszeugnis.
Ist Pop noch immer so retroorientiert?
Nein, nicht mehr so erdrückend retro, zum Glück. Ich höre wieder mehr moderne Einflüsse. Der US-Rapper Future zum Beispiel verwendet den Autotune-Effekt auf seiner Stimme, verzerrt ihn aber so, dass er sich wie eine Mischung aus einem Roboter und Bluessänger anhört. Das ist im weitesten Sinn Soul für ein Zeitalter, in dem die sexuelle Beziehung übers Handy geführt wird, ein Blues in der digitalen Ära.
Es ist doch auch einfach undankbar für junge Musiker, so spät geboren zu sein. Die grössten Innovationen wurden in den 1960er- bis 90er-Jahren gemacht.
Komplett neue Genres werden immer seltener, das stimmt. Das letzte neue Genre war vermutlich Dubstep (das in den Nuller-Jahren aus Dub, Garage, Two Step und anderen Stilen hervorging, die Red.). Dubstep enthielt Sounds, die wir noch nie gehört hatten. Was in den letzten Jahren fehlte, ist aber eine Musikmaschine, die etwas komplett Neues bietet.
Simon Reynolds trat vergangenen Donnerstag als Gastredner im Vitra Design Museum in Weil am Rhein auf, wo derzeit «Night Fever» lockt, eine sehenswerte Ausstellung über Ästhetik und Geschichte der Clubkultur.
Reynolds schreibt seit 30 Jahren über Popkultur, zunächst in England («Melody Maker», «Guardian»), dann auch in den USA (von der «New York Times» bis «Village Voice»). Die meisten seiner acht Bücher sind Standardwerke: «Rip it up and start again» etwa handelt von der Geschichte des Postpunk. «Generation Ecstasy: Into the World of Techno and Rave Culture» beschreibt den Aufstieg von Techno. Und «Retromania» den Hang zur Nostalgie. Reynolds lebt mit seiner Familie in Los Angeles.
Die Ausstellung «Night Fever» im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (D) läuft noch bis 9. September. Weitere Informationen unter design-museum.de.
Weil Innovation auch immer von neuen Instrumenten begleitet wurde, von der E-Gitarre bis zur programmierbaren Drum Machine?
Ja, genau. Wir erleben technologisch nichts bahnbrechend Neues, sondern nur Upgrades. So wie die TV-Bilder einfach schärfer werden, so ist es auch mit den Sounds. Die Grundstrukturen sind dieselben geblieben. In einem House-Track klingt vieles besser als in den 90er-Jahren, die Beats sind grösser, heller oder fetter. Wir haben mehr Speicherplatz, mehr Möglichkeiten. Aber vielleicht geschieht ja gerade ein grosser Wurf, irgendwo auf einem Youtube-Kanal ...
Youtube haben Sie auch schon kritisiert, ja verflucht. Es trage zur Retromanie bei.
Youtube ist in einer gewissen Weise eine kulturelle Katastrophe. Ich verbringe viel Zeit auf Youtube, es ersetzt das, was für mich früher der Besuch des Plattenladens war. Ich finde immer schräge Musik, von der ich gar nicht wusste, dass es sie mal gab. Auf Youtube entdeckte ich einen bulgarischen Musiker, der wie Jean-Michel Jarre auf Synthesizertürmen spielte.
Das Problem an Youtube ist, dass es zu viel Zeit und Energie raubt?
Ja, man macht Reisen durch die Vergangenheit, die einen davon abhalten, zeitgenössische Musik zu hören. Kommt hinzu, dass es sich bei Youtube um eine komplett individuelle Erfahrung handelt, ohne soziale Komponente. Früher, wenn eine Band bei Top of the Pops auftauchte, war das ein Event. Man teilte diese Erfahrung, alle sassen vor dem Fernseher. Youtube ist sehr individuell, so wie Blogs, die von einem kleineren Publikum gelesen werden. Es gibt Tausende Subkulturen auf Youtube, ich will es nicht verteufeln. Aber ich zumindest verliere mich in Nostalgie, nicht vergleichbar mit der Suche nach Neuem im Plattenladen.
Kommt hinzu, dass viele Leute die haptische Erfahrung vermissen, wodurch sich der Liebhabertrend zurück zum Vinyl erklärt.
Richtig. Seit die Musik über den Computer, als MP3 oder Stream verfügbar ist, verliere ich die Orientierung, lade Songs runter, die ich schon hatte, et cetera. Vinyl und CDs hingegen liegen in einem Raum, ich kann sie sehen. So ist greifbar, was ich habe. Ich ertappe mich dabei, dass ich eine CD sehe, die ich gekauft habe, und mich schuldig fühle, weil ich sie nicht anhöre.
Sie kaufen noch CDs?
Ja, ich finde, CDs klingen toll. Neue Musik, die digital produziert worden ist, möchte ich auch so hören. Vinyl kaufe ich nur, wenn es sich um alte Sachen handelt. Future hat ein Album digital und auf Vinyl veröffentlicht, was ich seltsam finde, schliesslich ist seine Musik so gut und modern produziert, dass sie nichts mit Analogem zu tun hat.
Wo orten Sie heutzutage innovative Musik?
Bei Rappern: Young Thug oder Rae Sremmurd, um zwei Namen zu nennen. Letztere veröffentlichten 2016 einen Song namens «Black Beatles», ein Nummer-1-Hit in den USA. Er bezieht sich auf die Musikgeschichte, ohne Retro zu sein, ist lustig und arrogant. Da setzt sich ein junger Schwarzer mit den Beatles gleich, wild und frei wie in einer Rockstarfantasie, aber in einem anderen Genre. Der Klang der Platte ist fantastisch, die Beats auch, und Future macht Lärm mit seiner Stimme wie Hendrix einst mit der Gitarre. Es gibt auch viele Frauen, die spannende Musik mit Synthesizern und Stimmprozessoren machen. Bands aber fallen mir im Moment weniger auf.
Rap ist im Kern aber auch alles andere als neu.
Das stimmt natürlich. Man könnte meinen, dass junge Leute die Schnauze voll haben von Rap und sich einer komplett neuen Art Musik zuwenden möchten. Aber das ist bisher nicht passiert. Doch es gibt kleine Anzeichen der Veränderung. Leute erfinden Instrumente, Unikate, um unverwechselbare Sounds zu kreieren. Das Verlangen nach originären Klangbildern ist da, aber die Genres werden nicht mehr radikal neu erfunden.
Ist alles nur noch ein Remix, wie manche Leute sagen?
Nein, gegen diese These wehre ich mich. Gerne wird behauptet, selbst die Beatles seien Remixer gewesen. Stimmt nicht. Sie waren besessen von allem Neuen, sei es Musique concrète, indische, psychedelische oder elektronische Elemente, die sie in unsere Popkultur integrierten. Künstler leihen immer aus, stehlen immer, aber es gab in den letzten Jahrzehnten sehr viele Beispiele, dass Leute dabei Neues geschaffen haben. Mit der Remix-These machen manche Propaganda für schwache Leistungen. Sie ermutigen die Leute, weniger zu erreichen. Natürlich stehlen Künstler, aber die wichtige Frage ist, was sie damit tun. Ein Genie nimmt etwas und schafft etwas Neues, das kann eine originelle Persönlichkeit sein, wie etwa im Fall des britischen Sängers Morrissey, ein neuer Text oder ein neuer Sound.
Wir unterhalten uns hier im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, im Rahmen der Ausstellung «Night Fever». Sie haben in den 90er-Jahren ein Buch über die Rave-Kultur herausgebracht. Was hat sich seither verändert?
Dance Music war einmal die gegenwärtigste aller Musikformen. Sie liess die Vergangenheit komplett hinter sich. Heutzutage kommt sie mit einem Traditionsbewusstsein daher, es gibt auffallend viele Retro-Dance-Stile, Künstler, die sich am frühen House orientieren und bewusst die Handschrift imitieren. Nichts gegen eine gute Nachbildung des Drum ’n’ Bass von 1994, aber – selbst wenn es mir gefällt –, denke ich mir: Das ist doch blöd, da kann ich mir ja grad so gut die Musik von früher anhören.
Aber Dance Music ist viel eklektischer geworden, so wie sie auch nicht mehr einfach nur mit einer einzigen Modedroge in Verbindung steht wie einst in den 70ern. Oder?
Ja, es gibt viele kleine Genres. Ein Trend ist, dass die Vorgeschichte der Raves – 80er-Industrial-Sounds – wiederentdeckt werden. Dunkle, harte Electronic Body Music. Dann fällt mir auch auf, dass im Unterschied zu Disco und House, die ja immer ein Gay-Element drin hatten, heute Queertronica angesagt ist. Manche Musiker tragen zu einer sexuellen Konfusion bei. Vor einigen Tagen sah ich etwa einen Künstler, der Lotic heisst und ziemlich dissonante, abstrakte Musik spielte. Musik, die schräg klingt und damit das Queere seiner Persönlichkeit zum Ausdruck brachte. Das finde ich eine interessante Entwicklung, die traditionelle, schwule Tanzmusik war funktionaler, ziemlich songorientiert, versprühte eine Atmosphäre wie einst die Gospelmusik. Heute ist die Vielfalt grösser, Tanzmusik kann chaotischer, herausfordernder sein. Eine Subjektivität, die gar nicht so einfach zu klassifizieren ist.