Locarno Film Festival
Halbzeit der Jubiläumsausgabe: Auch im weniger Gelungenem kann Grösse liegen

Das Beste kommt vielleicht zum Schluss und die Piazza bleibt ein Erlebnis. Fünf Beobachtungen.

Tobias Sedlmaier
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Festivalpräsident Marco Solari an der Piazza Grande.

Festivalpräsident Marco Solari an der Piazza Grande.

Urs Flueeler / KEYSTONE

Wenn etwas zwischen 90 und 120 Minuten dauert, und am Ende im besten Fall alle gewinnen, dann handelt es sich mitnichten um Fussball, sondern um Film. Dieser steht in Locarno selbsterklärt im Zentrum, soll mehr gefeiert werden als die anwesenden Stars. Gelingt es? Zeit für eine Halbzeitbilanz der mit Spannung erwarteten Jubiläumsausgabe.

Erste Beobachtung: Das Publikum kehrt wieder zurück. Noch nicht in gleichem Umfang wie 2019 vor der Pandemie, sagt der operative Leiter Raphaël Brunschwig, aber dennoch erkennbar. Das einsame Bild einer leeren Piazza ist erst einmal Vergangenheit. In den ersten Tagen spielte auch das Wetter brav mit, am Samstag- und Sonntagabend zogen jedoch Schauer über die Piazza.

Zweite Beobachtungen: Stars sind durchaus da, Matt Dillon etwa oder Sophie Marceau, doch manche werden noch etwas versteckt. Juliette Binoche etwa wurde sehr spontan angekündigt. Sie stellte «Paradise Highway» vor, einen Thriller um eine Truckerfahrerin, die in Menschenhandel verstrickt wird, leider mit grusligen Lücken in Drehbuch und Figurenzeichnung. Allerdings trat die französische Schauspielerin nicht direkt auf der Piazza auf, sondern wurde nur aus dem Kino zugeschaltet.

Bei Sokurov treffen sich die Diktatoren

Dritte Beobachtung: Das Beste kommt – hoffentlich – zum Schluss. Hört man sich um, bei Arbeitskollegen wie bei Besuchern, tönt deutlich durch, dass das filmische Highlight fehlt. Einen Crowdpleaser sucht man bisher ebenso vergeblich wie eine echte Provokation. Hoffnungen ruhen auf Wettbewerbsbeiträgen wie dem Schweizer Beitrag «De noche los gatos son pardos» oder dem italienischen «Gigi la legge».

Einer der bisher interessanteren Beiträge des Concorso internazionale stammt vom Russen Alexander Sokurov, ein Dauergast in Locarno. Was wie ein Witz klingt, wird bei «Skazka» («Fairytale») zur grotesken, kaum eindeutig auflösbaren Betrachtung über Totalitarismus: Treffen sich Hitler, Stalin, Mussolini und Churchill (dazu noch in unterschiedlichen Versionen ihrer selbst) in einem dantesken Höllenkreis ...

Jesus und Napoleon Bonaparte sind ebenfalls mit von der Partie; man spottet übereinander, beleidigt sich oder zitieren aus der Commedia. Das ist gleichzeitig lustig, mühsam, verwirrend. Mittels Archivmaterial und Animation werden die historischen Figuren zu traumwandlerischen Geistergestalten, deren seltsames Treiben auch als Verweis auf die aktuellen Kriegshandlungen gedeutet werden könne.

Vierte Beobachtung: Es bleibt dabei, dass die Bespielung der Piazza traditionell ein schwieriges Pflaster ist. Weniger wegen des kaum Stöckelschuhtauglichen Bodens, sondern ob all der Bedürfnisse, die diese zentrale Instanz vereinigen soll. Die Alteingesessenen im Publikum sollen ebenso Berücksichtigung finden wie die Neulinge, die Verleiher müssen im Boot sitzen und als Sahnehäubchen braucht es zur Präsentation noch die Stars. Im schlimmsten Fall erhält man als Ergebnis eine hyperkalkulierte Bestsellerverfilmung wie «Where the Crawdads Sing», die ab 18. August auch in den Kinos anläuft.

Daisy Edgar-Jones, die in Locarno den Leopard Club Award erhielt, spielt darin eine junge Frau, die, von Eltern und Geschwistern verlassen, in den Sümpfen North Carolinas aufwächst. Ein idyllisches Szenario, dem die latente Bedrohung eingeschrieben ist wie in Truman Capotes «The Grass Harp» oder den grossen Klassikern von Mark Twain. Allerdings ist die Mischung aus Drama und Krimi holprig erzählt und randvoll mit Kitsch. Am Schluss kippt sie endgültig ins Seicht-Esoterische, wenn die Protagonistin eins wird mit den Glühwürmchen im Sumpf.

Die Unzulänglichkeiten

Fünfte Beobachtung: Es wurde schon oft geschrieben und beschworen, ist deswegen aber nicht weniger wahr: Die Piazza ist noch immer ein Erlebnis. Andere Festivals mögen mit mehr Geld und ihren Gästen klotzen, doch das Lichttheater im Tessin bleibt unerreicht. Selbst wenn nicht alle Filme uneingeschränkt begeistern, ja schlimmer, teilweise kalt lassen.

Doch die Wahrheit ist: Zum Kino, wie zur Kunst überhaupt, gehört nicht nur das Gelungene, sondern auch das Gescheiterte. Holprig erzählte Geschichten, Figuren ohne Tiefe, abgegriffene Bilder, Schlussszenen, die sich so lange hinziehen und so oft noch einmal Atem holen, dass sie einen eigenen Film rechtfertigen könnten. Wer die Schwachpunkte nicht kennt, kann die Meisterschaft nicht verstehen.

Wo könnte man all die Unzulänglichkeiten besser studieren als auf der Piazza, wo man damit nicht alleine ist, sondern seine Erfahrungen und Emotionen in einer andächtigen Masse teilen kann? Und wo trotz der meist hervorragenden Organisation auch nicht immer alles perfekt läuft, gelegentlich die Bildkacheln auf der Leinwand durchschimmern, der Ton dröhnt, der Nachbar kaut, ein Display leuchtet.

Auch das gehört wohl dazu, wenn man über magische Momente spricht, alles Nicht-Perfekte, Störende, Gebrochene, Menschliche. Man tendiert schnell dazu, das Kino zu überhöhen, zu idealisieren und damit zu zerstören. Heute ist es tot, morgen wieder auferstanden, irgendwo dazwischen liegt die Realität. Dabei ist ein Film nur ein Film nur ein Film. Es ist noch nicht lange her, da gab es keine Gewissheit, ob man in absehbarer Zeit eine solche Veranstaltung würde erleben können. Nun gibt es sie wieder, allein das kann Grund zur Freude sein.