Das Locarno Film Festival widmet dem deutschen Regisseur die diesjährige Retrospektive. Sirks tragische Figuren haben uns noch heute etwas zu sagen.
Für zehn Tage kehrt auf dem Locarno Film Festival, das am Mittwoch eröffnet wird, ein praktisch ausgestorbenes Genre auf die Leinwand zurück: das Melodram. Denn die diesjährige Retrospektive ist Douglas Sirk gewidmet, einem Regisseur, der das Genre zu neuer Blüte brachte.
Moment, Melodram: Ist das nicht pathetischer Kitsch aus den 50er-Jahren mit Streichermusik und Schmalzlocken? Schnulzenkino für Zuschauerinnen, die nahe am Wasser gebaut sind und statt Popcorn einen Stapel Taschentücher in den Saal bringen? Wo sich die Handlung um Männer mit Hüten dreht, die Frauen ein bisschen zu tief in die Augen starren, ehe sie sie am Arm packen und ihnen – an der damaligen Zensur vorbei – im Halbschatten viel zu lange Küsse auf den Mund drücken?
Das mag sich die eine und der andere fragen, die mit dem Begriff Melodram höchstens noch Seifenopern oder gleich Rosamunde Pilcher verbinden. Doch sind dies nur Begleiterscheinungen, Nachwirkungen, Klischees, die von einem Genre übrig geblieben sind, das im Kern an zentralen Fragen menschlichen Miteinanders rührt. Und den familiären und gesellschaftlichen Kitt hinterfragt, der alles vermeintlich zusammenhält.
Das Offensichtliche, das sofort ins Auge springt bei Douglas Sirks Filmen, die herrlich überdimensionierte Titel tragen wie «There’s Always Tomorrow» (1956) oder «A Time to Love and a Time to Die» (1958), ist die opulente Optik. Man ertrinkt in der Sattheit der Farben, möchte sofort in die prachtvolle Postkartenidylle einziehen. Alles sieht absichtlich künstlich aus, wie im Musical jener Zeit. Die Überhöhung ist hier auch eine Distanzierungsmethode, eine geradezu Brechtsche Brechung. Theater trifft auf Technicolor.
Ja, die Gefühle sind gross bei Sirk, doch werden sie vielfach gespiegelt und ironisch gebrochen. Gerade ihre Grösse lässt genug Raum für Ambivalenzen: Unverbrüchliche Liebe enthält Spuren von Hass, rasende Eifersucht speist sich aus Egoismus, Sorge und Verzweiflung zugleich.
Komplexe Familientragödien entfalten sich: Die Witwe, die sich in den Playboy verliebt, der eine Mitverantwortung am Tod ihres Mannes trägt («Magnificent Obsession», 1954). Das dysfunktionale Trio einer millionenschweren Öldynastie, das durch Aufstiegsneid auf den Ziehbruder mehrere Leben zerstört («Written on the Wind», 1956). Gefangene ihres Seelenlebens sind diese traurigen und trauernden Figuren, unfähig zum Glück, letztlich alleine mit sich selbst und auf der Welt.
Stets geht es um Reue, Enttäuschung, Verlust, falsche Erwartungen und fehlende Akzeptanz. Am Ende kommt niemand davon, ohne einen Preis zu zahlen, eine Narbe zu behalten. Und wenn es ein Happy End gibt, wird es richtig überzeichnet wie in «All that Heaven Allows». Dort schaut ein Reh dem endlich vereinten Liebespaar ins Wohnzimmerfenster herein.
Diese Melodramen zeigen etwas, das im Kino der Gegenwart oft fehlt, obwohl es heute dringend nötig wäre: Ein Klassenbewusstsein, ein Gespür für die gesellschaftlichen Verwerfungen wie Rassismus, Abstiegsängste, patriarchales Verhalten. Also alles, worüber man heute bei Twitter diskutiert.
Sirks Sympathien gelten nicht den kriminellen Outlaws wie später im New Hollywood Bonnie und Clyde, sondern dem ehrlichen Underdog. Der Held ist der bürgerliche Aufsteiger, der noch einen Rest vom amerikanischen Geist in der Brust trägt und es aus eigener Kraft und Anstand zu etwas bringen will. Das Gesicht dafür fand er mehrfach in dem damaligen Womanizer Rock Hudson, der ein Leben lang seine Homosexualität vor der Öffentlichkeit verbergen musste.
Dabei war Sirk kein Amerikaner, sondern Deutscher, 1897 in Hamburg als Detlev Sierck geboren. In den 20ern war der Shakespeare-Verehrer Theaterregisseur, im Dritten Reich begann seine Filmkarriere. Er förderte Zarah Leander, mit der er unter anderem «La Habanera» drehte. 1937 verliess er Deutschland, seine zweite Frau war Jüdin. Im amerikanischen Exil verbrachte er seine schönste und produktiveste Zeit.
Auch wir suchen im Kino das, was grösser, stärker und schöner ist, als wir es sind. Genau wie die Figuren bei Sirk, die auf das Glück nur hoffen dürfen.
Douglas Sirk Retrospektive 3. bis 13. August, Locarno