Schach erlebt eine Spielfilm-Renaissance. Die Neuverfilmung von «Die Schachnovelle» mit Oliver Masucci ist ein Meisterwerk und konsequenter als die Buchvorlage und die Verfilmung aus dem Jahr 1960 – mit reizvollen Parallelen zum Netflix-Hit «Damengambit».
Wie hypnotisiert starren beide an die Decke. Besessen und immer rasender ziehen sie dort imaginäre Schachfiguren – Zug um Zug. So unterschiedlich die fiktiven Lebensgeschichten des amerikanischen Waisenkinds Elisabeth Harmon und des österreichischen Notars Dr. Bartok auch sein mögen: Sie stecken beide in einer Isolation fest, aus der sie mit Hilfe des Schachs entkommen – mit abgründiger Verzweiflung, Genialität, einer Portion Übersinnlichem und unvorstellbarer psychischer Anspannung. Es sind zwei Märchen: eines mit Happy End, eines mit schrecklich-böser Pointe.
Die tablettensüchtige Elisabeth Harmon wird mitten im Kalten Krieg in Moskau den fiktiven russischen Weltmeister Borkov schlagen und als strahlende Emanzipationsheldin im «Damengambit» mit 62 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern 2020 in die Netflix-Geschichte eingehen. Der Notar Dr. B. in «Die Schachnovelle» hingegen kommt nur als psychisches Wrack nach einem Nervenzusammenbruch 1939 aus der Gestapo-Folter im Wiener Hotel Métropole.
«Die Schachnovelle» von Stefan Zweig gehört zur Weltliteratur. Das Buch erschien 1943, ein Jahr nach dem Suizid des Schriftstellers, der sich 1942 nach jahrelanger Flucht vor den Nazis in Brasilien das Leben nahm. Seine Novelle über den unbeugsamen Notar, der in der Gestapohaft geistig ausgehungert werden soll, ist immer wieder neu erschütternd: Wie er dort ein Schachbuch findet, Partien im Geist nachspielt und so dem Verhör widersteht, aber nach und nach in eine Persönlichkeitsspaltung und Zerrüttung gerät, nach seiner Entlassung auf einem Schiff gegen den Schachweltmeister Czentovic in Schach-Wahnsinn abdriftet.
Und nun sitzt man im Kino und ist von dieser cineastischen Wucht der Neuverfilmung gebannt. Selten kommt es vor, dass eine Romanverfilmung konsequenter ist als ihre literarische Vorlage. Diese «Schachnovelle» mit dem atemberaubenden Oliver Masucci in der Hauptrolle gehört dazu: mit bösen Pointen. Denn der in der Folter immer schneller rasende Zug in den Wahnsinn kennt hier keine Rückkehr in ein normales Leben.
Der offene Schluss der Literaturvorlage wirkt weniger plausibel. Stefan Zweig liess am Ende den Notar Dr. B. das Schachspielen einfach aufgeben und liess die Figuren viel zu wohl formulierend und souverän über Traumatisches sprechen. Unplausibel erscheint in diesem Punkt auch die Schwarz-Weiss-Verfilmung aus dem Jahr 1960 – trotz aller Schauspielkunst von Curd Jürgens.
Dort fängt Dr. B. am Ende sogar noch ein neues Leben mit einer Balletttänzerin an. Die kammerspielartige Verfilmung fällt mit jener Schlussszene ins Kitschige – was wohl dem damaligen Kinopublikum die Naziquälerei erträglicher machen sollte.
«Die Schachnovelle» in der aktuellen Verfilmung von Philipp Stölzl hingegen ist nicht nur ein unfassbar kompaktes Gesamtkunstwerk, in dem Bild und Musik, Realität und Halluzination sich hoch spannend und atmosphärisch verschränken.
Es nimmt vor allem die Gestapo-Folterung in aller Konsequenz ernst und wird zu einem bewegenden, herzzerreissend-albtraumhaften Märchen: Was ist hier real auf dem Ozeandampfer, wo Bartok sich in ein Schachspiel verwickeln lässt? Was ist Wahnvorstellung? Gleicht Czentovic nicht etwa dem Gestapomann aus Wien, nun einfach mit Bart? Ist Bartoks Frau wirklich an Bord? Warum schenkt der Barmann auf dem Schiff (Joel Basman) dieselbe Whiskey-Sorte ein, wie sie der Gestapomann in Wien (Albrecht Schuch) beim Verhör in gönnerhaftem Zynismus angeboten hatte?
Brillant, wie uns der Film allmählich in Bartoks halluzinierte Wahrnehmung verführt und uns schliesslich erschreckt. Natürlich fährt der Ozeandampfer ständig im Nebel, stecken die blasierten Gäste an Bord allesamt im Smoking. Dumpfe Trommeltöne, leise sirrende Geigen hüllen die Szenerie dezent ein.
Heitere Walzergeigen dann in der Rückblende zum Tag vor dem Einmarsch der Nazis in Wien. In der selbstzufriedenen Ballstimmung des Grossbürgertums lacht man noch über letzte Witze: «In Deutschland werden die Zähne künftig durch die Nase gezogen, weil keiner mehr den Mund aufmachen darf!» Haha – es ist dieselbe lachende Unterschätzung vor dem Grauen der Nazis, die Oliver Masucci bereits 2015 in der bösen Hitlersatire «Er ist wieder da» als wiederauferstandener Adolf Hitler mit Vehemenz vorgeführt hat.
Soll man Stefan Zweigs Buch also gar nicht mehr in die Hand nehmen? Keineswegs. Die gediegene, ausgewogene Sprache der handelnden Figuren wird zwar auf- und missfallen. Diese passt so überhaupt nicht zum «halb analphabetischen», ungebildeten, maulfaulen Rohling Czentovic und erst recht nicht zum traumatisierten Dr. B.
Aber während Zweig die Schizophrenie des Dr. B. plausibel begründet, wird das in beiden Verfilmungen mehr angedeutet als verdeutlicht. Denn im Moment, wo er in Gestapohaft ohne Figuren und ohne Schachbrett beginnt, gegen sich selbst zu spielen, wird die Spaltung seiner Persönlichkeit akut und nachvollziehbar.
Er wird besessen und rachsüchtig gegen sich selbst – unbeherrscht, ja wahnsinnig. Gibt es daraus ein Retourticket? Der Glaube daran scheint naiv. So ist die Schlussszene der Neuverfilmung zwar auch komplett neu, aber konsequent, wie ein sanfter Boxhieb in die Magengrube. Dafür muss man ins Kino.
«Schach ist eine Freizeitbeschäftigung für gelangweilte preussische Generäle», spottet Oliver Masucci als Dr. Bartok in «Die Schachnovelle», bevor er in Gestapohaft zerbricht. Dass es auch ein lebensrettendes, aber krasses Psychospiel ist, ja sogar zum Emanzipationsmärchen taugt, zeigt das dramatische, charmante und elegante «Damengambit». Irgendwie tröstlich, dass Kunst und Kino beides im Angebot hat.
«Die Schachnovelle». Regie Philipp Stölzl, jetzt in den Kinos.
Die 1960er-Verfilmung der «Schachnovelle» ist als DVD erhältlich.