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Mit leiser Verzweiflung und wunderbarer Leichtigkeit schrieb er an gegen die Zumutungen des Alltags: Nun ist der Flaneur und Autor Wilhelm Genazino gestorben
Man hätte ihm täglich begegnen können im betonierten Grossstadtdschungel Frankfurts: einem älteren, leicht korpulenten Herrn, wie es in Deutschlands Fussgängerzonen viele gibt. Einem unauffälligen Spaziergänger mit schwarzer Schiebermütze, ziellos unterwegs, jedoch verborgen auf der Pirsch.
Wilhelm Genazino sammelte da draussen auf der Strasse, in Parks oder in Supermärkten kuriose Augenblicke und Alltagsbeobachtungen: Kleinigkeiten, die sonst keinem auffallen. Dafür verliess er halbtags seinen Schreibtisch und kehrte mit einer Handvoll Bleistiftnotizen auf kleinen weissen Zetteln zu ihm zurück – ein fleissiger Verwalter und Sachbearbeiter eines literarischen Fundbüros.
Ein Smartphone, einen Computer brauchte er nicht, um Schriftsteller zu sein. Wer ihn erreichen wollte, der griff zum Telefon und wählte eine Festnetznummer. Mit etwas Glück nahm dann Herr Genazino in seiner bescheidenen Frankfurter Etagenwohnung den Hörer ab, und ein paar Tage später sass man ihm gegenüber in seiner Schreib- und Lesehöhle. Fraglich, ob die Nachbarn wussten, dass in ihrem Block ein Büchner-Preisträger lebt. Vergangenen Mittwoch ist Wilhelm Genazino im Alter von 75 Jahren gestorben: ein Poet mit übergenauem, gedehntem Blick, dessen ironisch getönte Stimme fehlen wird in der Gegenwartsliteratur.
Dabei wuchs der 1943 in Mannheim geborene Arbeitersohn in einem Haushalt ohne Bücher auf. Zur Literatur fand Wilhelm Genazino wie Hans im Glück zu seinem Batzen Gold. Die Naivität des ohne Berechnung durch die Welt spazierenden Burschen aus dem Märchen der Brüder Grimm blieb bis zum Schluss sein literarischer Zugang zur Welt.
Bereits mit 22 Jahren veröffentlichte er 1965 seinen ersten Roman, in dem er sich an der eigenen kleinbürgerlichen Herkunft und der familiären Enge abarbeitete. Als begeisterter Böll-Leser hatte er das Manuskript einfach an dessen damaligen Verlag Middelhauve geschickt – prompt wurde der Roman gedruckt. Es dauerte freilich eine Weile, bis Genazino sein Werk fortsetzen konnte. Er heiratete, zog in den Schwarzwald, volontierte bei einer Lokalzeitung und hielt sich zunächst als Journalist über Wasser.
Mit der «Abschaffel»-Trilogie wurde er Ende der 1970er-Jahre zum Schöpfer des modernen Angestelltenromans. Seinen Hang zur Satire konnte er im Kreis der «Titanic»-Autoren um Robert Gernhardt und Eckhart Henscheid austoben – so fein und leise, wie es zu seinem Wesen passte, aber nicht ohne Bosheit. Breite Beachtung fand er erst, als Marcel Reich-Ranicki 2001 im «Literarischen Quartett» eine Lobeshymne anstimmte auf «Ein Regenschirm für diesen Tag». 2003 erschien mit «Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman» sein wohl persönlichstes Buch: eine tragikomische Entwicklungsgeschichte in der Nachfolge von Eichendorffs Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts». 2004 erhielt Wilhelm Genazino den Georg-Büchner-Preis.
Seither sind in verlässlicher Regelmässigkeit seine 150-Seiten- Romane im unverwechselbaren Genazino-Sound erschienen: Titel wie «Die Liebesblödigkeit», «Mittelmässiges Heimweh» oder «Das Glück in glücksfernen Zeiten», zuletzt im Frühjahr 2018 «Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze». Der Weg des vom Gepäck des Lebens geplagten, im Scheitern heiteren Hans im Glück ging da dem Ende zu.
Gewiss sind handbeschriebene Zettel auf dem Schreibtisch übriggeblieben, Material in Aktenordnern, aus dem keine tragikomischen, zwischen Kafka und Robert Walser tänzelnden Romane mehr werden konnten. Unvergesslich bleiben Genazinos skurrile, im «Zwangsabonnement der Wirklichkeit» herumlavierende Helden: Apokalypsespezialisten, promovierte Wäschelieferanten und Probeläufer für Luxushalbschuhe – so unscheinbar und leise auf Glückssuche unterwegs wie ihr Schöpfer.