Filmfestival
Gibt es wieder einmal einen «Bären»? Die Berlinale bietet eine grosse Bühne für Schweizer Filme

Zwei Filme aus der Schweiz hoffen an der Berlinale auf einen Hauptpreis, so viele wie nie zuvor. Ursula Meier brachte «La Ligne» mit. Michael Kochs «Drii Winter» räumt mit Heimatfilm-Klischees auf.

Daniel Fuchs und Sascha Rettig
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Der Regisseur und seine Laien: Michèle Brand, Regisseur Michael Koch und Simon Wisler (v.l.).

Der Regisseur und seine Laien: Michèle Brand, Regisseur Michael Koch und Simon Wisler (v.l.).

Bild: Clemens Bilan / EPA

«Drii Winter»: Wenn Laien für mehr Authentizität sorgen

Zwei Männer umzäunen eine Weide im steilen Gelände. Pfahl um Pfahl wird in den alpinen Boden gerammt. Die Kamera fängt einen der Bergbauern von hinten ein. Schwinger-Nacken, weisses Trägershirt, braun gebrannte Schultern. Marco spricht nur dann, wenn Reden absolut unumgänglich ist. Sein Lächeln umspielt unscheinbar den Mund.

Marco stammt nicht aus der Gegend. Ein Winter ist Marco nun oben im abgelegenen Urner Bergdorf und geht einem der Landwirte zur Hand. Hingezogen ist er wegen seiner Liebe zu Anna, einer alleinerziehenden Einheimischen.

Kräftige Schultern, Schwingernacken und ein Tumor, der Marco (Simon Wisler) verändert. Anna (Michèle Brand) aber hält zu ihm.

Kräftige Schultern, Schwingernacken und ein Tumor, der Marco (Simon Wisler) verändert. Anna (Michèle Brand) aber hält zu ihm.

Bild: Frenetic Films

«Drii Winter» von Michael Koch zeigt lange Einstellungen, Menschen bei der Arbeit. Das 4:3-Bildformat lenkt die Aufmerksamkeit auf die steilen Berge, tiefen Abgründe, und auf die Gesichter der Bergbauern, Metzger und Stammtisch-Besucher, die von der Kamera begleitet ihrem Alltag nachgehen.

Der Film beginnt wie ein Dok, ist aber Fiktion. Die Laiendarsteller spielen grösstenteils sich selbst. Die Einzigen, die schauspielern, sind Simon Wisler (Bergbauer aus Graubünden) als der in sich gekehrte Marco und seine Frau Anna (gespielt von Michèle Brand, Architektin aus Uri). Ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, als man bei Marco einen Hirntumor diagnostiziert und dieser Marcos Wesen dramatisch verändert.

Wir erreichen den Filmemacher Michael Koch in Berlin, wo sein Film diese Woche an der Berlinale Premiere feierte. Die Berlinale als Ort der Uraufführung für seinen Film war sein Wunsch. «Die grosse Leinwand und der Sound im Berlinale Palast waren grossartig. Sie verhalfen meinem Film zu mehr Kraft», freut sich Koch.

«Drii Winter» ist der erste Mundartfilm aus der Schweiz seit über 30 Jahren, der es in den Hauptwettbewerb der Berlinale geschafft hat. Neben ihm steht «La Ligne» der Westschweizer Regisseurin Ursula Meier (siehe Text unten) im Rennen um einen Bären, die Trophäe der Berliner Filmfestspiele. Mit Cyril Schäublins «Unrueh» steht ein ebenfalls mit Laien gedrehter Film in einem weiteren Berlinale-Wettbewerb.

Mit Klischeebildern aus der Schweiz aufräumen

Am Mittwoch entscheiden die Jurys über die Preisvergabe. Kochs Film kam sehr gut an beim Berliner Publikum. «Drii Winter» ist erst der zweite Langfilm des 39-jährigen Luzerners, der in Basel für verschiedene Theater als Schauspieler und Regisseur gearbeitet hat. Schweizweite Bekanntheit erlangte Koch bereits 2003, damals noch als Schauspieler in der Rekruten-Komödie «Achtung, Fertig Charlie» an der Seite von Melanie Winiger.

Suchte sich das Urnerland für den Filmdreh aus: Der Luzerner Regisseur Michael Koch.

Suchte sich das Urnerland für den Filmdreh aus: Der Luzerner Regisseur Michael Koch.

Bild: Clemens Bilan / EPA

Der Titel «Drii Winter» ist eine Reverenz an die Urner, mit denen Koch den Film gedreht hat. «Dort oben zählen sie die Jahre in Wintern», sagt Koch. Der Titel transportiert die Abgeschiedenheit, das Rohe und Archaische, das Kochs Liebesgeschichte umgibt. Marco hilft mit, einen Muni einer Kuh zuzuführen, wir werden Zeugen von künstlichen Besamungen, ein geschlachtetes Rind wird ausgeweidet. Die Szenen setzen der ohnehin brutalen Geschichte noch einen drauf.

Sucht Koch Schockmomente? «Nein, aber das Publikum soll eine intensive Erfahrung machen, die hängen bleibt. Viele Zuschauer, gerade auch in Deutschland, haben Postkartenbilder der Schweizer Alpwirtschaft im Kopf.

«Mit meinem Film will ich zeigen, wie anders sich die Realität in den Bergdörfern zeigt.»

Für Koch ist das Urnerland idealtypisch. «Da gibt es nicht so viel Tourismus wie in anderen Bergkantonen. Die Menschen leben von der Berglandwirtschaft und das fand ich so spannend.» Das passe zur Geschichte um die Liebe einer Frau, die sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lasse. Wo Andere sich längst von Marco abgewandt hätten, hält Anna zu ihm.

Koch betont, nicht Klischees bedienen zu wollen, findet aber: «Aber es ist doch schon so: Wer aufwächst wie die Bergler mit all den Risiken, und wer ständig der Naturgewalt ausgesetzt ist, der lernt, dass gewisse Dinge nicht zu kontrollieren sind.»

Trailer zu «Drii Winter».

Quelle: New Europe Film Sales / Youtube

Michael Koch mag den Begriff Heimatfilm nicht. Doch er spielt mit diesem Genre, indem er die Landschaften konterkariert mit der Geschichte, die Schneegipfel also mit den gesellschaftlichen Abgründen. Und so hat Koch einen Heimatfilm der anderen Art gedreht, eine Geschichte mit den Grautönen, Schattierungen und Unwägbarkeiten geschaffen, wie sie überall erzählt werden könnte, aber vielleicht nicht überall gleich enden würde wie in den Urner Bergen.

Wie gelingt ein guter Film mit Laienschauspielern?

Für seinen Film wählte Koch ausschliesslich Laien. Authentizität steht für ihn an oberster Stelle. «Ich wollte erreichen, dass sie sich selbst spielen können. Das gelingt nur, wenn Laien nichts anderes zu sein vorgeben müssen, als sie sind.» Koch rang sich dafür mehr Drehzeit aus. Statt 30 Drehtage gab es 70, um die Kosten tiefer zu halten arbeitete er mit einer «minimalen Crew».

Man sieht die Menschen beim Heuen in den steilen Flanken. Und wähnt sich wieder im Dokumentarfilm. Die Handgriffe bei dieser gefährlichen Arbeit sind echt. Wie beim Zäunen. Schauspieler würden sich dabei wohl verrenken. Gut vorstellbar, dass solche Darstellungen eine Berlinale-Jury entzücken.

«La Ligne»: Wenn Mutter und Töchter sich den Krieg erklären

Valeria Bruni Tedeschi hat für Mutterliebe nicht viel übrig.

Valeria Bruni Tedeschi hat für Mutterliebe nicht viel übrig.

Bild: Zvg

Am Anfang steht eine Eskalation in extremer Zeitlupe. Vasen, Teller, Tassen, irgendwelche Einrichtungsgegenstände fliegen mit voller Wucht gegen die weisse Wohnzimmerwand und zerschellen in seltsamer Schönheit.

Nur einen Moment später sieht man auch die Familie, die all das bei einem handgreiflichen Streit zuvor umhergeworfen hatte. Jetzt fallen die Menschen übereinander her, was die Kamera in derselben verstörend-betörenden Langsamkeit einfängt und ihre wütenden Gesichter fast fratzenhaft erscheinen lässt.

Es ist der Konflikt, der im Berlinale-Wettbewerbsbeitrag «La Ligne» der Schweizer Regisseurin Ursula Meier dafür sorgt, dass bei diesen konstanten Grenzüberschreitungen tatsächlich die titelgebende Grenzlinie gezogen wird. Tochter malt Bannkreis ums Haus Musikerin Christina (Valeria Bruni Tedeschi), Mitte 50 und Mutter dreier Töchter, ist nach der Auseinandersetzung schliesslich auf einem Ohr taub und die älteste, 35-jährige Tochter Margaret darf sich ihr per Gerichtsbeschluss in den nächsten drei Monaten auf nicht mehr als 100 Metern nähern.

Die jüngste Tochter Marion malt daher einen blauen Bannkreis um das Haus: Eine Linie, die nicht übertreten werden soll. «La Ligne» zeigt fortan diese hochgradig dysfunktionale Mutter-Tochter-Beziehung in einem Wohngebiet am Fuss der Alpen auf Abstand. Doch Margaret harrt an der Grenze aus, sorgt sich um ihre kleine Schwester und hockt mit Verstärker und Gitarre auf einem Erdhügel, um der 12-Jährigen täglich Musikunterricht zu geben.

Es ist nicht das erste Mal, dass die eigentlich fürsorgliche, empathische Margaret körperlich gewalttätig wurde. Schon bald weiss man aber auch, woher das kommt und dass es seinen Ursprung im Verhalten der Mutter hat.

Valeria Bruni Tedeschi verkörpert sie schliesslich als extrem selbstbezogene Frau, deren Karriere einst endete, als sie (zu) früh zum ersten Mal schwanger wurde – gerade einmal mit 20 Jahren. Die Enttäuschung und der Frust darüber lässt sie ihre emotional vernachlässigten Töchter, vor allem aber Margaret, nach wie vor spüren.

Ursula Meier gewann bereits einmal einen Bären

Immer wieder sorgt all das in «La Ligne» für Augenblicke, in denen sich beim Zuschauen alles zusammenzieht. Mal, weil der Film einen mit schmerzvoller Intensität überfällt, wenn Margaret nackt bei winterlichen Temperaturen verzweifelt am Fenster um ein Gespräch bettelt. Mal, weil man sich fremdschämt für die Mutter, die jedes emotionale Gespür und Einfühlungsvermögen für ihre Töchter vermissen lässt, wie es zugespitzt bei einer aus dem Ruder laufenden Weihnachtsfeier zu beobachten ist.

Mit formalem Bewusstsein wie einst im Film «Winterdieb», mit dem die 50-jährige Filmemacherin 2012 den Silbernen Bären gewann, illustriert Meier dabei in diesen Spannungen ein so unermüdliches Ringen um Geborgenheit, die in dieser Familie wohl vor allem eine Sehnsucht bleiben wird. Der Wunsch nach familiärer Nähe ist ein ewiger Kampf. Die akute Wunde in Margarets Gesicht mag zum Schluss verheilt sein. Die Narbe aber bleibt.