1968
Das Ende der Good Vibrations: Als Pop und Rock zum Soundtrack der Protestkultur wurden

Der Rhythmus wird härter, die Proteste werden lauter, der Summer of Love ist vorbei. Während auf der Strasse demonstriert wird, kreieren die Musiker einen nie gehörten Sound. Ihr gesellschaftlicher Stellenwert war hoch, die politische Botschaft marginal.

Stefan Künzli
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Protest gegen die Nominierung von Hubert Humphrey als US-Präsident und Edmund Muske als Vize, Chicago, Illinois, 28. August 1968.

Protest gegen die Nominierung von Hubert Humphrey als US-Präsident und Edmund Muske als Vize, Chicago, Illinois, 28. August 1968.

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Der Umsturz schien zum Greifen nah. Nur noch eine Frage der Zeit. Nach der Ermordung des Schwarzenführers Martin Luther King am 4. April 1968 brannten in den USA die Gettos. Gewalttätige Ausschreitungen erschütterten Deutschland, nachdem der Studentenführer Rudi Dutschke niedergeschossen wurde.

In London kam es schon im März zur ersten grossen AntiVietnam-Demonstration und in Paris gingen die Studenten auf die Strasse, besetzten im Mai die Sorbonne, bis ein Generalstreik das Land lahmlegte. Die Regierungen von Charles De Gaulle, Kurt Georg Kiesinger und Lyndon B. Johnson taumelten.

Die Euphorie und der Optimismus des Vorjahres, des «Summer of Love», waren verflogen, gebrochen. Wut, Ernüchterung, Angst und Entsetzen machten sich breit und verdrängten den naiven Glauben an «Love, Peace and Happiness» der Hippie-Generation. Es musste etwas geschehen.

Paris: Barrikaden aus Autos in der Rue Gay-Lussac am 11. Mai 1968.

Paris: Barrikaden aus Autos in der Rue Gay-Lussac am 11. Mai 1968.

imago stock&people

Die erwachte Pop- und Rockkultur wurde in den 60er-Jahren zum Soundtrack dieser Gegenkultur, des Protests. Sie wurde zum Seismografen der politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen der bewegten Jahre: 1966 war das Jahr, als die Rockmusik explodierte, 1967 hat Popmusik die Welt verändert, in ihrer Haltung und Inspiration.

Und 1968? Musikalisch hatte das Jahr 1967 eigentlich alles schon gesagt. Doch mit der zunehmenden Unzufriedenheit und der wachsenden Protestkultur wurde auch die Pop- und Rockmusik aggressiver und lauter, politischer und ideologischer.

Die «Good Vibrations», die 1967 die Beach Boys besungen hatten, waren endgültig vorbei. Als Trägerin und Verbreiterin von Botschaften und Utopien wurde der Pop- und Rockmusik eine entscheidende Rolle bei der Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zugetraut. Doch wie gross war das revolutionäre Potenzial wirklich?

Sarkastische Sprüche

Der Protest dies- und jenseits des Atlantiks entzündete sich in erster Linie am Vietnam-Krieg. «Feel-Like-I’m-Fixin’-To-Die Rag» («Mir-kommt’s-vor-als-würd’-ich-bald-sterben-Rag») von Country Joe McDonald wurde 1968 zur fröhlich-sarkastischen Hymne der Antikriegsbewegung. «1, 2, 3, what are we fighting for? Don’t ask me, I don’t give a damn. Next stop is Vietnam» sollen sogar amerikanische Soldaten in Vietnam gesungen haben.

Noch erfolgreicher war der Song «People Got To Be Free» von den Rascals, der die US-Charts in den heissen Sommermonaten stürmte. Wie aufgeladen die politische Stimmung war, zeigt, dass Konservative in den inhaltlich relativ harmlosen Zeilen «The Train of Freedom is about to arrive any minute now» einen politischen Umsturz aufziehen sahen.

Ganz klar politisch motiviert war auch Frank Zappa. «Wir würden gern dazu beitragen, dass die Leute politisch zu denken beginnen», sagte er. Doch deutliche politische Botschaften und Inhalte sucht man bei ihm vergebens. Stattdessen inszenierte er sich als Bürgerschreck und steuerte mit Ironie und Zynismus einen Frontalangriff auf die amerikanische Gesellschaft. Dabei verschonte der Meister-Spötter auch die Hippie-Bewegung nicht und parodierte sie in seinem Album «We’re Only in It for the Money».

Frank Zappa und die Mothers of Invention veröffentlichen 1968 «We’re Only in It for the Money».

Frank Zappa und die Mothers of Invention veröffentlichen 1968 «We’re Only in It for the Money».

KEYSTONE

Bob Dylan schwieg

Doch welche Rolle spielten die grossen Wortführer des Pop und Rock? Wo waren die Beatles, Rolling Stones, Jimi Hendrix und Bob Dylan? Mit «The Times They Are a-Changin’» wurde Dylan 1964 zum Propheten des Umbruchs, setzte 1965 seine Gitarre unter Strom. Alle hingen an seinen Lippen, doch ausgerechnet in den entscheidenden Jahren schwieg das «Sprachrohr der Generation».

Nach einem Motorradunfall 1966 zog sich der Chefideologe der Popkultur für zwei Jahre völlig aus der Öffentlichkeit zurück und widmete sich, ganz bürgerlich, seiner Familie. Auch in Woodstock ein Jahr später glänzte er durch Abwesenheit. Dylan war ein 68er vor 68, und mit der Hippie-Kultur und den 68ern, so heisst es, wurde er nie so richtig warm. Aber auch der damals populärste französische Rockstar Johnny Hallyday stand den revoltierenden Studenten distanziert bis ablehnend gegenüber.

Bob Dylan zwischen «John Wesley Harding» (1967) und «Nashville Skyline» (1969) in Bearsville.

Bob Dylan zwischen «John Wesley Harding» (1967) und «Nashville Skyline» (1969) in Bearsville.

Sony Music

Die Beatles waren zunächst nur Beobachter der Geschehnisse. Von Februar bis April waren die Engländer auf ihrem Indien-Trip, meditierten bei Maharishi Mahesh Yogi und verpassten prompt die erste grosse Anti-Vietnam-Demo in London.

What can a poor boy do?

Immerhin war Mick Jagger dort und liess sich von den Krawallen in London und Paris zum Song «Street Fighting Man» inspirieren. «The time is right for fighting in the street» («Die Zeit ist reif, um auf der Strasse zu kämpfen»), singt Jagger und fordert zunächst unmissverständlich zum Aufstand auf.

Doch schon in der nächsten Zeile relativiert er das Ganze: «What can a poor boy do except to sing in a rock ’n’ roll band.» («Was kann ein armer Junge schon tun, ausser in einer Rock-’n’-Roll-Band zu singen»). «Cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man.» (Im verschlafenen London gibt es keinen Platz für einen Strassenkämpfer»).

Jagger markiert zwar den Rebellen, zum Äussersten wollte er es denn doch nicht kommen lassen. Keith Richards betonte Jahre später in einem Interview des «Rolling Stone», dass das Lied «wirklich mehrdeutig» sei. «Street Fighting Man» gilt als der politischste Song der Band, die eigentlich nie sehr politisch agierte.

Als zorniger junger Mann inszenierte sich auf der Bühne auch Jimi Hendrix. Er war nicht der Einzige. Vor ihm zelebrierten Pete Townshend und Jeff Beck diesen aufsehenerregenden Akt der Zerstörung. Das Zertrümmern von Gitarren galt als Ausdruck der Rebellion und Protestkultur. Doch auch Hendrix war ein musikalischer, kein politischer Revoluzzer. Mehrmals sollen die radikalen Black Panthers versucht haben, den Gitarrengott für ihre politischen Zwecke zu gewinnen. Hendrix liess sich nicht vereinnahmen, er liess die Panthers abblitzen.

Der politisch aktivste Popstar jener Zeit war John Lennon. Die Ernüchterung, die Enttäuschung über den Lauf der Dinge, die Radikalisierung und Ideologisierung ist auch an Lennons Haltung abzulesen: Noch im Sommer 1967 schuf er mit Paul McCartney die euphorische Hippie-Hymne «All You Need Is Love». Ein Jahr später komponierte er «Revolution». «We all want to change the world. But when you talk about destruction. Don’t you know that you can count me out», singt er in der zentralen Passage und erteilt der revolutionären Anwendung von Gewalt eine deutliche Absage.

John Lennon und Yoko Ono wollen mit Bed-ins dem Frieden eine Chance geben.

John Lennon und Yoko Ono wollen mit Bed-ins dem Frieden eine Chance geben.

Universal

Das war im August 1968 auf der B-Seite von «Hey Jude». Drei Monate später, in der Version des «White Album», fügt Lennon dem «You count me out» ein «in» hinzu. War der Pazifist Lennon plötzlich bereit für den gewaltsamen Umsturz? «Ich habe beides reingenommen», sagte er später, «weil ich mir nicht sicher war.»

Aber auch John Lennon war ganz offensichtlich nicht bereit, bis zum Äussersten zu gehen. Als in den USA ein Ausweisungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde, verstummte der Politaktivist Lennon. Das private Glück war ihm offensichtlich wichtiger als seine politische Überzeugung.

Mehr Pose als Protest

In den politischen Pop- und Rocksongs von 1968 herrschte eine bunte Vielfalt. Die Botschaften waren verschwommen, verschlüsselt, uneinheitlich oder sarkastisch. Oft war es mehr Pose als wirklicher Protest. So etwas wie einen revolutionären Masterplan zum Umsturz des politischen Systems gab es nie. Die Musik war ein Abbild der Zeit, hat reagiert, nicht agiert. Sie hat auf Missstände wie in Vietnam aufmerksam gemacht.

Aber nur die wenigsten Rock- und Popmusiker glaubten an die Kraft der politischen Veränderung durch Musik. Sie war inhaltlich weder visionär noch prophetisch. Eine wirkliche Wechselwirkung fand deshalb nicht statt. Es war die Politik, die die Musik befeuerte, aber kaum umgekehrt.

Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke hörte Arbeiterlieder, mit Rockmusik konnte er nichts anfangen. So blieb die Musik in Sachen Politik weitgehend wirkungslos. Elektrische Gitarren und lange Haare waren für viele eine Provokation, für den politischen Umsturz taugten sie nicht.

Schweiz träumt im Heavenly Club

Wie sehr die Musik dem politischen Geschehen hinterherhinkte, macht die Situation in der Schweiz deutlich. Die Hippie-Bewegung hatte schon beim Konzert der Rolling Stones, im April 1967, ihre Unschuld verloren, als sich im Hallenstadion in Zürich tumultuöse Szenen zwischen Polizei und Rockfans abspielten. «Nach dem Stones-Konzert wurden wir wie Ungeziefer behandelt», sagt der Schweizer Rock-Pionier Hardy Hepp und vermutet, dass ein Teil der Jugendlichen bei diesem Ereignis radikalisiert wurde.

Gemäss Toni Vescoli hat das Konzert «vorbereitet, was später in den Globuskrawallen seinen Ausdruck fand». Auch am berühmten Monster-Konzert mit Jimi Hendrix kam es zu unschönen Szenen. Trotzdem träumte die brave Pop-Schweiz im Jahr 1968 noch immer im «Heavenly Club». Der Hippie-Song der Sauterelles stand sechs Wochen lang an der Spitze der Schweizer Hitparade.

«Politische Popmusik war eine wirkliche Gefahr fürs System nur in Ländern, in denen keine Demokratie herrschte», schreibt «Die Zeit». Wie in Griechenland und Brasilien, wo damals eine Militärdiktatur regierte. Der griechische Komponist Mikis Theodorakis sowie die brasilianischen Musiker Gilberto Gil und Caetano Veloso kämpften mit ihren Liedern gegen die Militärdiktatur in ihren Ländern und gingen für ihre Überzeugungen sogar ins Gefängnis.

Anders im demokratischen Westen: «In Deutschland, England und den USA rülpste der Markt kurz, und schon war, was sich eben noch staatsfeindlich anhörte, zu Unterhaltung geronnen; gefährlich prickelnd, aber letztlich folgenlos.»

Ende des Jahres 1968 waren De Gaulle und Kiesinger jedenfalls immer noch in Amt und Würden. In den USA wurde der Republikaner Richard Nixon zum Präsidenten gewählt, und in Vietnam wurde weiter gekämpft und getötet.