Elektronische Kunst
«Seeing is Revealing»: Verstörende und betörende Bildwelten eines digitalen Zeitalters

Das Haus der elektronischen Künste zeigt neue Videoinstallationen des belgischen Künstlers Emmanuel van der Auwera.

Tanja Opiasa-Bangerter
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Emmanuel Van der Auwera: «VideoSculpture XIV (Shudder)», 2017.

Emmanuel Van der Auwera: «VideoSculpture XIV (Shudder)», 2017.

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Er habe im Moment ein sehr seltsames Gefühl. Das seltsamste Gefühl, kommentiert die männliche Stimme aus dem Voiceover. Auf den überdimensionalen Screens türmen sich grüne Hecken und volle Supermarktregale.

Der Schein der amerikanischen Vorstadtidylle trügt –unser Blick bleibt an einer Hauswand hängen, als sich deren Konturen plötzlich verzerren. «Wir leben im digitalen Zeitalter, und alles ist gespeichert», prophezeit dieselbe Stimme. Sie stammt von einem Überlebenden eines Schulattentats, die digitale Unsterblichkeit. Der Boden der 3D-Welt bricht auf. Nicht wirklich, sondern als Effekt einer Computer-App, die der 1982 in Brüssel geborene Künstler Emmanuel van der Auwera auf seiner 3D-Konstruktion von abfotografierten Objekten anwendet.

Subtil dekonstruieren seine Arbeiten in der Ausstellung «Seeing is Revealing» die Narrative eines digitalen Zeitalters, indem Medium und Inhalt bewusst verzerrt, manipuliert und neu inszeniert werden. Konfrontiert mit einer stilisierten Reizüberflutung von virtuellen Abgründen und Zufluchten werden die Betrachtenden selbst zu Voyeurinnen und Wirklichkeitsschaffenden. Die ästhetische Konstruktion dystopischer Gefühlswelten ist somit Hommage und Antithese der Kunstform selbst.

Diese Ambivalenz zeigt sich insbesondere darin, wie der Belgier mit seinen Bildträgern arbeitet. Während die oben beschriebene Installation «The Sky Is on Fire» mit ihren LED-Bildschirmen bildgewaltig wirkt, gibt die Zerstörung von zwölf Computerbildschirmen in «VideoSculpture XVII (O’Hara’s on Cedar St.)» einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers.

Streifenweise entfernte er den Polarisationsfilter der Bildschirme und erreicht mit der Manipulation der bildgebenden Funktion eine neue Auseinandersetzung mit dem Medium. Getrieben von der Schaulust einer Generation, die sämtliche Inhalte konstant abrufen kann, leitet das Werk nicht nur dazu an, die Bildfetzen des 20-minütigen Videos zu decodieren.

Emmanuel Van der Auwera: «The Sky is on Fire», 2019.

Emmanuel Van der Auwera: «The Sky is on Fire», 2019.

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Die Verlangsamung der wiedergegebenen Bilder, die an der Gedenkfeier zum 10. Jahrestag der Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center entstanden sind, zwingt in Kombination mit der beschädigten Textur des Mediums zur Entschleunigung.

Voyeurismus und virtuelle Realität

Auch die zwei zwischen 2017 und 2019 entstandenen Arbeiten «VideoSculpture XX (The World’s 6th Sense)» und «VideoSculpture XIV (Shudder)», die auf der grössten Ausstellungsfläche präsentiert sind, zeigen eine tiefe Auseinandersetzung mit digitaler Fiktion und virtueller Realität. Zu sehen sind jeweils vier weisse Bildschirme, von denen der Polarisationsfilter entfernt wurde.

Die scheinbar blinden Flecken entfalten ihre Wirkung erst mithilfe von schwarzen Plexiglas- oder Spiegelflächen, die einen Zugriff zu einer Art Parallelwelt ermöglichen. Darin sehen wir einen Kriegsveteranen im Rollstuhl, der ein Mädchen in die Arme schliesst, oder ein Händchen haltendes Paar in den Strassen von Las Vegas. Dieses wurde im Rahmen einer Werbekampagne gefilmt – die Aufnahme des Veteranen stammt aus Online-Datenbanken.

Verstörendes Leporello

Die Quellen, die Van der Auwera für seine Arbeiten nutzt, sind zugleich auch ton- und bildgebend. Dies zeigt seine neuste, 2022 fertiggestellte und titellose 3-Ton-Kanal-Arbeit in einer Blackbox. Van der Auwera reagiert auf die reaktionären Wellen in den sozialen Medien, die dem gewaltsamen Tod von George Floyd folgten, mit einem entblössenden und doch verschleiernden Leporello aus verstörenden Bildern.

Die editierten Drohnenaufnahmen von den Black-Lives-Matter-Protesten wurden durch drei verschiedene Softwares praktisch bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie enthüllen den befremdlich wirkenden Blick von Maschinen auf Menschen. So sind jeweils nur Umrisse oder Farbfelder einer verhafteten oder fliehenden Person zu erkennen – die Unruhe der Bilder ist kaum zu ertragen.

In seiner ebenfalls 2022 fertiggestellten Installation «VideoSculpture XXV (Archons)» lässt sich Van der Auwera noch stärker auf die virtuell generierten ästhetischen Bildwelten ein. «Ich habe dich vermisst», sagt ein KI-Avatar zu einem Kind und streckt seine digital animierte Hand nach seinem Gegenüber aus.

Emmanuel Van der Auwera: «Wake me up at 4.20», 2017.

Emmanuel Van der Auwera: «Wake me up at 4.20», 2017.

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Dieses utopische Verfliessen von digital inkarnierten Persönlichkeiten und menschlichen Gefühlswelten wirkt faszinierend und bizarr zugleich. Eine eindrückliche Auseinandersetzung mit der Generation X leistet Van der Auwera in «Wake me up at 4:20», einem Kurzfilm, in der sich zu Avataren verfremdete Akteure zum Online-Suizid zweier Jugendlicher äussern. Ob unsterblich oder nicht – das digitale Zeitalter polarisiert.

«Seeing is Revealing»
Haus der elektronischen Künste HEK
Bis 15.8.
www.hek.ch