Die «Maus» tappt endgültig in die Falle: Der Sohn des legendären Kriminellen «El Chapo» wurde in Mexiko gefasst. Das hat Folgen für eine ganze Stadt, denn die Narcos wollen Rache.
Der Zugriff erfolgte im Morgengrauen. In dem Dorf Jesús Maria, 35 Kilometer nördlich von Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaates Sinaloa, ging Einheiten der mexikanischen Marine und Nationalgarde am Donnerstag Ovidio Guzmán, einer der Söhne des legendären Drogenbosses Joaquín «El Chapo» Guzmán in die Falle.
Guzmán junior, Spitznamen «El Ratón», die Maus, ist einer der führenden Köpfe des Sinaloa-Kartells, auf den sowohl in Mexiko als auch den USA ein hohes Kopfgeld ausgesetzt war. Ovidio führt gemeinsam mit seinen Brüdern Iván Archivaldo und Jesús Alfredo die «Los Chapitos» («Kleine Chapos»), eine der mächtigsten Fraktionen des grössten Verbrecher-Syndikats Mexikos. Die Chapitos sollen nach US-Angaben monatlich bis zu 2200 Kilo der synthetischen Droge Fentanyl herstellen und den Grossteil davon in die Vereinigten Staaten schmuggeln.
Sechs Monate hatten sich offensichtlich US- und mexikanische Geheimdienste an die Fersen der «Maus» geheftet und jetzt zugegriffen. An einen Zufall mag in Mexiko niemand so recht glauben. Denn am Montag trifft US-Präsident Joe Biden gemeinsam mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau in Mexiko zu einem Nordamerika-Gipfel ein. Und Guzmán, für den die USA ein Auslieferungsgesuch gestellt haben, ist wohl so etwas wie das Willkommensgeschenk für den US-Präsidenten.
Aber Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador hatte auch noch eine Rechnung offen mit dem 32-Jährigen. Im Oktober 2019 hatten die Sicherheitskräfte «El Ratón» erstmals festgenommen und ihn wenige Stunden später wieder freigelassen. Denn nach der Festnahme hatte das Sinaloa-Kartell die Millionenstadt Culiacán terrorisiert und in einen Kriegsschauplatz verwandelt. López Obrador knickte daraufhin ein und liess den Drogenboss wieder frei. Es war eine epische Niederlage für den damals erst kurz amtierenden Linkspräsidenten.
Auch jetzt versuchte das Sinaloa-Kartell erneut mit all seiner militärischen Macht, die Verlegung von Ovidio Guzmán nach Mexiko-Stadt zu verhindern. Die bewaffneten Einheiten der Mafia übernahmen am Donnerstag für zwölf Stunden die ganze Stadt. Culiacán erwachte mit brennenden Barrikaden, Strassensperren, Überfällen und Schiessereien. Die Behörden zählten 19 sogenannte «Narcobloqueos», Narco-Blockaden.
In den sozialen Netzwerken kursierten schnell Fotos und Videos von brennenden Autos und Lastwagen sowie bewaffneten Zusammenstössen zwischen Pistoleros des Kartells und den Sicherheitskräften. Scharfschützen der Mafia nahmen Flugzeuge am Airport von Culiacán unter Beschuss, um zu verhindern, dass Guzmán ausgeflogen wird.
Sie beschossen Linienflugzeuge und Maschinen der Luftwaffe, Panik brach am Flughafen aus, woraufhin der Airport in Culiacán und die Flughäfen in anderen Orten Sinaloas geschlossen und mehr als hundert Flüge gecancelt wurden. Die Schulen blieben in Culiacán geschlossen, die Regierung ordnete einen arbeitsfreien Tag an. Krankenhäuser schlossen. Und so konnte man wieder einmal sehen, dass eigentlich die Kartelle in Sinaloa die Macht haben und die Stadt lahmlegen können, wenn sie es nur wollen. Nach Angaben des Gouverneurs von Sinaloa, Rubén Rocha, wurde bei den Gefechten mindestens ein Mitglied der Nationalgarde getötet und etwa 30 weitere Menschen verletzt, zumeist Militärs.
Dem Militär gelang es erst am Nachmittag, Guzmán junior in die Hauptstadt Mexico City auszufliegen. Medienberichten zufolge wurde er dort auf einen Militärstützpunkt gebracht. Das US-Aussenministerium hatte ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Ein Gericht in Washington erhob bereits 2018 Anklage wegen Drogenschmuggels gegen «El Ratón», der mit seiner Bande etwa elf Labore zur Herstellung künstlicher Drogen betreiben soll.
Diese sehr mexikanische und sehr reale «Räuberpistole» endet mit einem Punktsieg für die Regierung. Die Festnahme stärkt für den Moment das Ansehen von López Obrador, dem in den vergangenen Monaten zunehmend die Kontrolle über sein Land entglitt. Besonders die Tage seit Weihnachten waren erneut gezeichnet von Kaprizen der Kartelle und Machtdemonstrationen der Mafias.
Kurz vor Weihnachten wurde in der Hauptstadt auf einen der bekanntesten Journalisten des Landes ein Attentat verübt, das er nur aufgrund seines gepanzerten Fahrzeugs überlebte. Fast gleichzeitig verteilte das Kartell «Jalisco Nueva Generación» (CJNG) in der Millionenmetropole Guadalajara in einer Prozession ganz ungestört Weihnachtsgeschenke und erfreute so Hunderte von Kindern und ihre armen Familien. Und zu Neujahr zeigten die Kartelle in der Grenzstadt Ciudad Juárez, dass sie aus dem Knast befreien können, wen sie wollen. Angreifer tauchten mit gepanzerten Fahrzeugen vor der Haftanstalt auf und eröffneten das Feuer auf Polizisten und Wärter. 24 Inhaftierte konnten flüchten.
Jeden Tag werden in Mexiko etwa einhundert Morde verübt, mehr als 100'000 Menschen gelten als vermisst, 33'000 verschwanden allein während der aktuellen Regierung. Im vierten Jahr in Folge ist Mexiko das gefährlichste Land für Journalisten auf dem Globus – ausserhalb von Kriegsgebieten.
López Obrador, der erste linke Präsident Mexikos, wurde 2018 gewählt, weil er versprach, der Gewalt ein Ende zu setzen. Seine Vorgänger hatten versucht, die Kartelle mit dem Einsatz der Streitkräfte in die Knie zu zwingen, was nur zu noch mehr Blutvergiessen führte. Der Neue hingegen trat mit einem völlig anderen Ansatz an: «Abrazos no balazos», also «Umarmungen statt Kugeln» – ein Konzept, das auf Prävention statt Repression setzte, und vor allem auf Angebote an junge Leute, damit sie nicht den Verführungen der Kartelle erliegen. Stipendienangebote und Straferlässe für leichte Delikte gehörten zu dem Ansatz.
Heute muss man sagen, dass diese Taktik krachend gescheitert ist. Immer grössere Teile Mexikos sind in den Händen der Kartelle. «Die Situation ist unhaltbar, und das Fehlen einer wirksamen Strategie gegen die Unsicherheit, gepaart mit der Gleichgültigkeit auf allen Regierungsebenen, verschärft täglich die Lage», warnte der Arbeitgeberverband Coparmex.
Manchmal wirkt Mexiko eher wie ein Land im Krieg als ein G-20-Staat und formell eine der grössten Demokratien der Welt. Und bei strenger Analyse befindet sich Mexiko ja auch im Krieg mit sich selbst oder gegen innere Kräfte, die das Land massiv und erfolgreich destabilisieren und den Ruf ruinieren. Und in der Folge gleicht das Land immer mehr einem Schlachtfeld.