Die katholischen Kirche kooperierte mit den Ermittlern, viele Opfer sprachen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse. Doch strafrechtliche Konsequenzen wird es wohl nur in wenigen Fällen geben.
Eine unabhängige Untersuchungskommission hat eines der düstersten Kapitel der jüngeren französischen Geschichte aufgearbeitet. Ihr am Dienstag vorgestellter 2500-seitiger Abschlussbericht wirft ein grelles Licht auf die Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche seit 1950. Tausende französische Priester werden als pädosexuelle Verbrecher entlarvt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Laut der unabhängigen Untersuchungskommission haben seit 1950 zwischen 2900 und 3200 Kirchenleute sexuelle, mehrheitlich pädokriminelle Vergehen begangen. Die Zahl der Opfer, die in katholischen Institutionen oder im Rahmen von Ferienlagern der Kirche zu Schaden kamen, wird auf 330'000 geschätzt. Alleine katholische Priester sollen sich in 216'000 Fällen schuldig gemacht haben. Laut Bericht gab es alle Arten von Berührungen, Vergewaltigungen, Folter, ja sogar Sklavenhaltung. Die Kinderrechtsaktivistin Alice Casagrande, die in der Kommission mitgearbeitet hat, sagt:
«Wir waren mit einer Welt des Sadismus, des Irrsinns und der Perversion konfrontiert, die man nie für möglich gehalten hätte.»
Die meisten Kommissionsmitglieder mussten sich selber betreuen lassen, um die Schilderungen zu verkraften.
22 Pädagogen, Psychologinnen und Juristen haben über zwei Jahre lang Archive durchforstet und Zeugen angehört, darunter 250 Opfer. Sie führten 3600 Telefongespräche und werteten 2800 Briefe aus. Als sich unter den französischen Katholiken herumsprach, dass die Kommission wirklich unabhängig handelte, fassten sich viele Opfer ein Herz und sprachen erstmals über ihre traumatisierenden Erlebnisse.
Auslöser der Kommissionsarbeit war der Fall des Lyoner Erzbischofs Philippe Barbarin, der einen pädophilen, heute verurteilten Priester gedeckt haben soll. Der höchste Würdenträger der französischen Kirche wurde zwar 2020 freigesprochen Sein Amt hat er trotzdem niedergelegt, nachdem der Spielfilm «Grâce à Dieu» seinen exemplarischen Fall weitherum bekannt gemacht hatte.
Die französische Bischofskonferenz hatte die Kommission nach der Barbarin-Affäre selber einberufen, beteiligte sich aber bewusst nicht an den Arbeiten. Auch hat die Kirche ihre Archive seit 1950 geöffnet. Das ist nicht ganz selbstverständlich in einem Land, wo viele Dokumentationen – wie etwa zur französischen Beteiligung am Völkermord von 1994 in Ruanda – unter Verschluss bleiben. Nach ähnlichen Untersuchungsberichten in Irland, Deutschland, Australien und den USA konnte die «älteste Tochter der Kirche» – wie sich der französische Katholizismus noch heute sieht – die Augen allerdings nicht weiter vor den Schandtaten verschliessen.
Kommissionspräsident Jean-Marc Sauvé billigt der katholischen Kirche zu, sie habe Lehren gezogen. In den 1950er und 1960er Jahren habe sie die Beschwerden von Opfern noch schlicht ignoriert, später habe sie meist weggeschaut. Seit der Barbarin-Affäre habe sie immerhin eine Anlaufstelle und eine Internetseite für Opfer pädokrimineller Kirchenleute eingerichtet.
Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz meldete sich am Dienstag ebenfalls zu Wort. Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort sagte:
«Angesichts so vieler zerrütteter, oft zerstörter Leben schämen wir uns und sind entrüstet.»
Man werde alle erforderlichen Schritte einleiten, damit sich ein solcher Skandal nicht wiederhole. Auf der Sitzung der Kirchengremien im November sollten Massnahmen getroffen werden.
Das wird vom Willen der Opfern abhängen. Viele Fälle sind allerdings schon verjährt. Davon zeugt ein neues Buch des heutigen Priesters Patrick Goujon, der zwischen dem 7. und 11. Altersjahr von einem Abt missbraucht worden war. Offenbar wegen seines unbewussten Selbstschutzes erinnerte er sich erst im Alter von 48 Jahren plötzlich an alles. Da waren die pädokriminellen Akte verjährt.
Die Frage ist, ob man bei 3000 Tätern, also knapp drei Prozent der 115'000 französischen Priester, über einen Zeitraum von 70 Jahren noch von Einzelfällen sprechen kann. Kommissionspräsident Sauvé erklärte, die Kirche stehe als Ganzes in der Verantwortung. So wie der Sportunterricht einen leichteren Zugang zum Körper erlaube, öffne die Kirche den Weg zum Bewusstsein; das könne ein Umfeld schaffen, «das spirituellem Missbrauch, begleitet von sexuellem Missbrauch, förderlich» ist.
Die französischen Bischöfe haben sich laut Presseberichten mehrfach im Vatikan erkundigt, wie sie auf den Bericht reagieren sollen. Papst Franziskus habe ihnen geantwortet:
«Den Dingen ins Auge schauen, und die Opfer begleiten.»
Die französischen Bischöfe wollen noch in diesem Herbst ein kirchenrechtliches Strafgericht für pädokriminelle Delikte schaffen. Für die Opfer richten sie einen Fonds von fünf Millionen Euro ein, der laut der Bischofssprecherin Karine Dalle je nach den genauen Opferzahlen des Berichtes noch höher ausfallen könne.
Im Gegenteil: Die Aufarbeitung beginnt jetzt erst. Der Vorsteher eines Opferverbandes, François Devaux, äusserte sich bereits skeptisch, ob die Kirche wirklich bereit sei, ihre «unglaubliche Mechanik des Schweigens» zu überwinden. Bis heute sei unklar, welchem Profil die Täter entsprächen, warum die Verjährungsfristen nicht verlängert würden – und warum die Kirche eine interne Justiz beschäftigen könne. Nötig wäre zu diesen Fragen ein Drittes Vatikanisches Konzil, sagt der ehemalige Pfadfinder.