Die Türkei blickt gebannt auf die Europawahlen

Nicht nur in den Mitgliedländern gilt die Europawahl als Weichenstellung für die Zukunft der Union. Das Votum könnte auch über die künftigen Beziehungen der Türkei zur EU entscheiden.

Gerd Höhler, Athen
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Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu (rechts) Anfang des Monats mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Ankara. Bild: Cem Ozdel/EPA (6. Mai 2019)

Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu (rechts) Anfang des Monats mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Ankara. Bild: Cem Ozdel/EPA (6. Mai 2019)

Die Türkei brauche die EU ebenso, wie Europa die Türkei brauche, schrieb der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu kürzlich in der amerikanischen Zeitung «Politico» und forderte, den Beitrittsprozess seines Landes «wieder aufs Gleis zu bringen». Dass der Appell gerade jetzt kommt, ist kein Zufall. Die Türkei spürt kräftigen Gegenwind aus Europa. Manfred Weber, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei für das Amt des Kommissionspräsidenten, fordert ein sofortiges Ende der Türkei-Beitrittsverhandlungen. Und wenn die nationalistischen Kräfte im nächsten Europäischen Parlament gestärkt werden, worauf vieles hindeutet, dürfte sich die europäische Perspektive der Türkei weiter verfinstern.

Über ein Ende der Beitrittsverhandlungen kann zwar nur der Europäische Rat entscheiden. Dort gibt es bisher keine Mehrheit für einen solchen Schritt. Aber gegen das Europäische Parlament werden weder die für Ankara wichtige Erweiterung der Zollunion noch die von Erdogan immer wieder angemahnte Lockerung der Visapflicht für türkische Staatsbürger umzusetzen sein. Insofern hat das Ergebnis der Europawahl für die Türkei unmittelbare Auswirkungen.

Die EU-Beitrittskriterien erfüllt das Land nicht mehr

Recep Tayyip Erdogan war es, der als Premierminister in den 2000er-Jahren mit Reformen seinem Land den Weg zu Beitrittsverhandlungen ebnete. Derselbe Erdogan ist es, der als Staatschef mit der Demontage demokratischer Rechte die Tür zu Europa inzwischen wieder zugeschlagen hat. Die Kopenhagener Kriterien, die für alle Beitrittskandidaten gelten, erfüllt die Türkei nicht mehr. Zu ihnen gehören die Wahrung der Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten, eine demokratische Grundordnung und institutionelle Stabilität. Von der ­Gewaltenteilung, einem Grundpfeiler der Demokratie, ist in Erdogans Türkei nicht mehr viel übrig geblieben. Die Justiz ist gegängelt, die Medien sind geknebelt, Kritiker werden zum Schweigen gebracht. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zählt in der Türkei 45 000 politische Gefangene.

Erdogan macht aus seiner Verachtung für europäische Werte keinen Hehl. Er sieht in Europa ­einen Kontinent, der von «Nazi-Überbleibseln» bevölkert ist und dämonisiert führende EU-Politiker als «Feinde des Islam». Erdogan hat das Land nicht nur von Europa entfremdet. Die Türkei ist heute international so isoliert wie selten zuvor in ihrer jüngeren Geschichte. Sie liegt mit fast allen Nachbarn, Partnern und Verbündeten im Streit. Das Verhältnis zu den USA ist so zerrüttet, dass manche in Washington darüber nachdenken, ob sich die Nato von der Türkei trennen sollte. Aussenpolitisch stehen Erdogan und sein Aussenminister Cavusoglu vor einem Scherbenhaufen.

Der türkische Machthaber hat auf der Welt nicht mehr viele Freunde. Zu den wenigen gehö­ren Wladimir Putin und Nicolas Maduro. Nüchterne Beobachter müssen allerdings erkennen, dass weder Venezuela noch Russland für die Türkei die EU als grössten Handelspartner und wichtigsten Investor ersetzen können, zumal nicht in der akuten Wirtschaftskrise. Auch das erklärt Cavusoglus Appell, die eingefrorenen Verhandlungen wieder aufzunehmen.

Auf das Ende Erdogans warten

Gerade für die türkische Wirtschaft ist die europäische Perspektive des Landes ein wichtiger Stabilitätsanker. Umgekehrt hat auch Europa gemeinsame Interessen mit der Türkei, vor allem in der Migrations- und Sicherheitspolitik. Dennoch sind die Beitrittsverhandlungen längst zur Farce geworden. Die EU könnte sie beenden und eine Anbindung der Türkei unterhalb der Schwelle der Vollmitgliedschaft suchen. Die Brücken zu Ankara abzubrechen wäre falsch. Die Erfolge der Opposition bei den Kommunalwahlen in Istanbul, Ankara und anderen türkischen Grossstädten haben gezeigt: Erdogan ist nicht unbesiegbar. Seine Ära wird früher oder später zu Ende gehen. Dann muss die EU Flagge zeigen.

Wikipedia klagt gegen Sperrung

Wikipedia hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Beschwerde gegen die Sperrung des Internet-Lexikons in der Türkei eingereicht. Die hinter der Plattform stehende US-Organisation Wikimedia Foundation leitete die rechtlichen Schritte ein, wie ein Sprecher des Gerichts Ende Woche in Strassburg bestätigte. Wikipedia ist seit mehr als zwei Jahren in der Türkei nicht mehr aufrufbar. Als Grund für die Sperrung gab die türkische Telekommunikationsbehörde damals an, auf der Website würde «fälschlicherweise behauptet, die Türkei unterstütze Terrororganisationen». «Freies Wissen lebt von Zugang. Ausschluss schadet dagegen allen», erklärte Abraham Taherivand, geschäftsführender Vorstand von Wikimedia Deutschland. Zudem fehlten allen Nutzern auch die türkischen Einträge sowie Perspektiven und Diskussionen aus dem Land, argumentierte Maiken Hagemeister von Wikimedia in Deutschland. (sda)