China/Hongkong
Seit einem Jahr sorgt Hongkongs Sicherheitsgesetz für Angst und Schrecken – bis in die Schweiz

Mit dem Gesetz geht Peking radikal gegen die Demokratiebewegung vor – mit beängstigendem Erfolg.

Sebastian Sele
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1 Million statt 80’000: Die allerletzte Ausgabe der Hongkonger Zeitung «Apple Daily» war gefragt.

1 Million statt 80’000: Die allerletzte Ausgabe der Hongkonger Zeitung «Apple Daily» war gefragt.

Bild: Getty (Hongkong, 24. Juni 2021)

Vor genau einem Jahr bestieg Nathan Law am Hongkonger Flughafen ein Flugzeug, um seine Heimat wohl für immer zu verlassen. «Ich habe mich für das Exil entschieden. Meine persönliche Sicherheit liess mir keine andere Wahl», sagt er ein Jahr später zu dieser Zeitung. Es habe sich abgezeichnet, dass in Hongkong ab diesem Tag nichts mehr so sein würde wie vorher. Der Grund: Das Sicherheitsgesetz trat in Kraft. «Sezession» und «Subversion» sind seither strafbar, ebenso die nicht genauer definierte «Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften in den inneren Angelegenheiten der Stadt». Für Law, einen der Köpfe der Demokratiebewegung, war klar: Bleibt er, wird es ungemütlich.

Doch nicht nur für ihn hatte die Einführung des Sicherheitsgesetzes drastische Konsequenzen. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden seither 114 Personen wegen Verstössen gegen das Sicherheitsgesetz festgenommen. Gegen 64 laufen Gerichtsverfahren, 45 sitzen in Untersuchungshaft. Die Stadt ist eine andere geworden.

500 Polizisten stürmten die Boulevardredaktion

Noch im Sommer 2019 marschierten Millionen Bewohner durch die Hochhausschluchten Hongkongs. Ihr Widerstand galt dem zunehmenden Einfluss Chinas auf die Stadt mit Sonderstatus. Seit die Briten 1997 die ehemalige Kolonie an die Volksrepublik zurückgegeben haben, gilt dort das Prinzip «One Country, Two Systems». Hongkong gehört zwar zu China, wird aber unabhängig regiert. Im Jahr 2047 soll dieser Sonderstatus aufgehoben werden. Die Zukunft ist ungewiss.

Carrie Lam, die umstrittene Regierungschefin Hongkongs.

Carrie Lam, die umstrittene Regierungschefin Hongkongs.

Keystone

Vor allem die Jungen sind es, die gegen den zunehmenden Einfluss der autokratischen Grossmacht China aufbegehren. 2014 setzten sie sich mit der Regenschirmbewegung – Nathan Law war einer der Anführer – für ein von China unabhängiges Parlament ein. Und 2019 ging die Polizei unter Regierungschefin Carrie Lam so lange gegen die Massenproteste vor, bis von den Millionen in den Strassen nur noch ein harter Kern übrig blieb. Dieser besetzte die Universitäten der Stadt und verteidigte sie – auch mit Gewalt.

Mit dem Sicherheitsgesetz sind diese Millionen nun zum Schweigen verurteilt. Nathan Law hat den Weg ins Exil gewählt, doch andere sind geblieben. Joshua Wong, der mit Law zusammen die Regenschirmbewegung angeführt hatte, sitzt derzeit eine 26-monatige Haftstrafe ab. Eine Gruppe von Aktivisten wurde im Sommer abgefangen, als sie mit Booten illegal nach Taiwan übersetzen wollte.

Da waren sie noch vereint in Hongkong: die Demokratieaktivisten Joshua Wong (Mitte) mit Agnes Chow (rechts) und Nathan Law (links).

Da waren sie noch vereint in Hongkong: die Demokratieaktivisten Joshua Wong (Mitte) mit Agnes Chow (rechts) und Nathan Law (links).

Keystone

Im November 2020 traten alle pro-demokratischen Parlamentarier der Stadt zurück, weil vier ihrer Kollegen wegen vermeintlicher Verstösse gegen das Sicherheitsgesetz abgesetzt worden waren. Und erst im Juni stürmten 500 Polizisten die Büros der pro-demokratischen Boulevardzeitung «Apple Daily». Deren Verleger Jimmy Lai ist schon länger inhaftiert. Nun wurden diverse weitere Mitarbeiter mit Verweis auf das Sicherheitsgesetz festgenommen. Am Donnerstag erschien nach 28 Jahren die letzte Ausgabe von «Apple Daily». In einer Auflage von einer Million Exemplaren statt der üblichen 80'000.

Gefragt wie nie: die allerletzte Ausgabe der Zeitung «Apple Daily», die am Donnerstag eingestellt worden ist.

Gefragt wie nie: die allerletzte Ausgabe der Zeitung «Apple Daily», die am Donnerstag eingestellt worden ist.

Keystone

«Die Demokratiebewegung wird unterdrückt», sagt Professor Steve Tsang, Direktor des China-Instituts an der SOAS Universität in London. «Aber die Sehnsucht nach Demokratie wird weiterhin breite Unterstützung geniessen.» Zu Massenprotesten werde es aber kaum mehr kommen, sagt Tsang. «Mit dem Sicherheitsgesetz wird die Regierung Gewalt anwenden, um das zu verhindern.»

Grossbritannien erwartet 300'000 Hongkonger

In welche Richtung sich der Widerstand Hongkongs entwickelt, lässt sich auf der verschlüsselten Messenger-App Telegram erahnen. In einer Chat-Gruppe schreibt ein anonymer Nutzer: «Bringt mich in den Palast der CCP und ich sch**se Xi Jinping in den Mund.» Unterdrückung radikalisiert.

Fernab der Hongkonger Strassenschluchten lebt Simon Cheng, der ebenfalls wegen Verstössen gegen das Sicherheitsgesetz gesucht wird. Als politischer Flüchtling ist er nach London gekommen – genau wie Nathan Law. Cheng hat vor gut einem Jahr die Expat-Organisation «Hongkongers in Britain» gegründet. Anfragen von 15'000 Hongkongern hätten er und sein Team bereits bearbeitet.

«Manche stehen wegen ihres Einsatzes für die Demokratie sogar im Strafregister.»

Auch wenn diese Strafen in Europa nicht anerkannt würden: Viele Arbeitgeber und Vermieter seien verängstigt. Wer möchte sich schon mit einer Grossmacht anlegen?

Geschätzt 5,4 Millionen Hongkonger haben Anrecht auf ein sogenanntes «British National Overseas»-Visum, das es ihnen erlaubt, in Grossbritannien zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Die Regierung rechnet mit 300'000 Hongkongern, die in den nächsten fünf Jahren auf diesem Weg einreisen werden.

Einfach ist das neue Leben für sie keineswegs. «Viele müssen den Kontakt zu ihren Familien abbrechen», sagt Cheng. Auch er selbst hat seit der Einführung des Sicherheitsgesetzes keinen Kontakt mehr zu seinen Verwandten in der Heimat, um diese vor möglichen Konsequenzen zu schützen. «Ich habe Paranoia vor Verfolgung und kann nachts nur schlecht schlafen», erzählt Cheng.

Der Bund wird weiter mit China kooperieren

Wie viele Hongkong-Flüchtlinge in der Schweiz leben, ist nicht bekannt. Sie werden vom Bund in der Statistik als Chinesen geführt. Ebenso wenig weiss der Bund, ob er bereits Hongkongern in der Schweiz Asyl gegeben hat. Erst im Dezember liess Bern aber verlauten, dass man weiterhin mit China kooperieren könnte – etwa bei «Identifikationsgesprächen von mutmasslichen chinesischen Staatsangehörigen, die die Schweiz verlassen müssen». Zum letzten Mal kam 2016 eine chinesische Delegation zu diesem Zweck in die Schweiz.

Verstummt: die Hongkonger Boulevard-Zeitung «Apple Daily».

Verstummt: die Hongkonger Boulevard-Zeitung «Apple Daily».

Keystone

Trotzdem fühlen sich die Schweizer Exil-Hongkonger einigermassen sicher im Land. Anfang Monat protestierten knapp drei Dutzend Hongkong-Sympathisanten vor dem UNO-Hauptsitz in Genf. «Befreien wir Hongkong», war auf einem ihrer Schilder zu lesen. Ein Slogan, der unter dem Sicherheitsgesetz strafbar ist.

Einer der Teilnehmer war K.D., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

«Es war ein heisser Tag, aber manche hatten sogar ihre Unterarme bedeckt, um nicht erkennbar zu sein.»

Die Auswirkungen des Sicherheitsgesetzes spürt er bis hierhin in die Schweiz. «Ob ich meine Familie in Hongkong je wieder besuchen kann, weiss ich nicht», sagt K.D. Vor allem diese Ungewissheit sei schwer zu ertragen. Denn wie weit China bei der Auslegung des Sicherheitsgesetzes gehen wird, das ist auch ein Jahr nach dessen Einführung völlig unklar.