Seit Ende der Diktatur regierten in Brasilien Links- und Zentrumsparteien. Mit Jair Bolsonaro übernimmt am 1. Januar erstmals ein ultrarechter Diktaturbefürworter, ein Rassist und Frauenfeind die Präsidentschaft. Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang.
Für die Anhänger von Jair Bolsonaro beginnt am 1. Januar eine neue Zeitrechnung in Brasilien. Für sie ist der 63-jährige Ex-Militär jemand, der mit harter Hand für Ordnung sorgen wird im verlotterten Tropenparadies. Sie erwarten ein Ende von Korruption und Gewaltkriminalität und wirtschaftlichen Aufschwung nach drei Jahren Rezession. «Ich bin zweimal überfallen worden und hoffe, dass Bolsonaro die Waffengesetze lockert, damit wir Bürger uns verteidigen können», sagte die 23-jährige Immobilienmaklerin Linda Fontes der Tageszeitung «El Diario». In einer Umfrage des Instituts Datafolha zeigten sich 65 Prozent zuversichtlich, dass es mit der Wirtschaft unter Bolsonaro aufwärtsgehen wird – ein historischer Rekordoptimismus.
Aber auch für die Gegner bricht eine neue Zeit an. Sie fürchten eine Rückkehr zum rechtsnationalen Obrigkeitsstaat, in dem die Militärs das Sagen haben und Andersdenkende erst verunglimpft und dann eingesperrt oder gar von Todesschwadronen umgebracht werden.
Im südbrasilianischen Dourados zogen seit Bolsonaros Wahlsieg mehrfach Schlägertrupps durch Bororo, mit 13000 Einwohnern die grösste Indigenasiedlung des Landes, zündeten Schulen und Häuser an und verletzten mehrere Menschen durch Schüsse.
Wofür Bolsonaro steht, daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht. «Biblia, boi e bala» heisst die parteienübergreifende Fraktion im Kongress, die ihn unterstützt. Übersetzt sind das die wertkonservativen Evangelikalen, die Agroindustriellen und die Waffenlobby. Sein Wirtschaftsteam besteht aus neoliberalen Hardlinern um Superminister Paulo Guedes, die Sozialleistungen zusammenstreichen, Steuern senken, die Wirtschaft öffnen und die Grossindustrie- und Landwirtschaft unterstützen. Es ist ein Modell, dem das protektionistische Brasilien widerstanden hat. Auf Kosten höherer Steuern, viel Bürokratie und höherer Preise wurde ein nationales Unternehmertum geschaffen, das sich dafür der Politik gefällig zeigte.
Dass das «Modell Brasilien» reformiert werden muss, ist unstrittig. Es hat zu viele privilegierte Gruppen geschaffen – eine davon die Militärs mit ihren grosszügigen Besoldungsregeln. Aber ist Guedes’ Alternative zukunftsweisend? Sein Modell basiert auf dem Export von Rohstoffen und sieht für Brasilien die Rolle des Agroproduzenten der wachsenden Weltbevölkerung vor. Es erhöht den Druck auf die wenigen noch intakten Biome des Landes und diejenigen, die ihre traditionellen Lebens- und Produktionsmethoden verteidigen, insbesondere Kleinbauern und Indigene. Schon jetzt verschwindet im Rekordtempo der Amazonas-Regenwald, der Cerrado und nicht einmal der halbwüstenartige Sertao im Nordosten ist sicher. Seit der Präsident der linken Arbeitspartei (PT) Luiz Inácio «Lula» da Silva dort einen Megakanal gebaut hat, avanciert die Region dank Gentechnik und modernster, kapitalintensiver Bewässerungstechniken immer mehr zum Obst- und Gemüseproduzenten.
Offenbar wenig Interesse hegt die neue Regierung für Industrie und Technologie. Mit der industriellen Wirtschaftselite in São Paolo – dem grössten Industrie- und Automobilpol Südamerikas – steht Bolsonaro auf Kriegsfuss. Staatliche Konzerne mit Spitzentechnologie stehen auf der Privatisierungsliste, darunter der Erdölkonzern Petrobras – zumindest einige seiner Geschäftszweige – oder auch der sehr erfolgreiche Flugzeughersteller Embraer, der unlängst noch von Bolsonaros Vorgänger Michel Temer an Boeing verschachert wurde.
Mehrwert wird so nicht geschaffen, Arbeitsplätze wohl eher auch nicht, und dass Brasilien weltpolitisch mehr Gewicht bekommt, ist eher unwahrscheinlich und offenbar auch nicht angestrebt. Das einst auf eine regionale Führungsrolle bedachte Brasilien, so lassen Bolsonaros erste aussenpolitische Aktionen vermuten, wird sich fortan der US-Agenda unterordnen: Die brasilianische Botschaft wird nach Jerusalem verlegt, die Beziehungen zu China kritisch hinterfragt, das Pariser Klimaabkommen und der UNO-Migrationspakt boykottiert.
Warum aber wählten die Brasilianer einen Mann, der seine einzige Tochter als «Schwächeanfall» bezeichnet, die Schwarzen als «faul» verunglimpft und Indigene für rückständig hält? Jemand, der in einem Land mit 64'000 Morden im Jahr der Polizei die Lizenz zum Töten geben und den Waffenbesitz freigeben will? Wieso soll einer, der seit 30 Jahren für neun verschiedene Parteien im Kongress sass, ausgerechnet ein moralischer Erneurerer sein? «Er hat Emotionen manipuliert. Mit Lüge und Diffamation und damit jeder sachlichen Argumentation das Wasser abgegraben», sagt Joaquim Palhares, Direktor des linken Blattes «Carta Maior». Die Mehrheit der Brasilianer nimmt Bolsonaros Sprüche auf die leichte Schulter. Sie sehen in ihm einen «Messias» – zumal der Katholik mit zweitem Namen nicht nur so heisst, sondern auch bei jeder Gelegenheit Gott anruft.
Bolsonaros Präsidentschaft wird zum Lackmustest werden für die noch junge brasilianische Demokratie. Eine Schranke könnte die Justiz sein, die unter der PT reformiert wurde und nun mehr Unabhängigkeit geniesst, was den Korruptionsskandal um die Baukonzerne Odebrecht, Camargo Correo und den Erdölriesen Petrobras erst ins Rollen brachte – dessen prominentestes Opfer die PT selbst wurde.
Und dann ist da das Militär. Die letzten 30 Jahre hat es sich dezent im politischen Hintergrund gehalten. Bolsonaro selbst wurde 1988 im Range eines Hauptmanns zwangspensioniert. Er war vor dem Obersten Militärgericht angeklagt, Attentate geplant zu haben, um Unruhe zu stiften und besseren Sold für die Truppe einzufordern. Seine Vorgesetzten beurteilten ihn damals als «autoritär, übertrieben ehrgeizig, geldgierig, irrational und labil».
Doch nun hat Bolsonaro sieben Militärs ins Kabinett geholt. Einige, wie sein Vizepräsident Hamilton Mourao, gelten als durchgeknallte Extremisten. Mourao, so munkelt man, sei der Schutzwall gegen ein Amtsenthebungsverfahren, da er dann Bolsonaro beerben würde.
Die erste Nagelprobe wird aber der aufgrund des Wahl- und Parteiensystems zersplitterte Kongress. Bolsonaros Partei stellt nur 10 Prozent der Abgeordneten. Um auf die nötigen Mehrheiten zu kommen, müsste er wohl dasselbe tun wie seine Vorgänger: Stimmen kaufen. Doch der Haushalt ist nach drei Jahren Rezession und niedriger Rohstoffpreise nicht üppig gepolstert.