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Der brutale Falle einer vergewaltigten Dreijährigen verunsichert die 7300 Bewohner des provisorischen neuen Lagers. Athen aber schaut weg.
Ein Lagerbewohner fand das Mädchen in einem Waschraum. Die Dreijährige lag bewusstlos auf dem Boden. Sie blutete. Herbeigerufene Sanitäter brachten das Kind aus dem Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos ins Spital. Dort diagnostizierten Ärzte schwere Verletzungen – Folgen einer brutalen Vergewaltigung.
Wenige Tage nach dem Vorfall kam der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis nach Lesbos, um mit einer Gruppe handverlesener Journalisten das Lager zu besuchen. Nach Kara Tepe wurden die meisten Bewohner des Flüchtlingslagers Moria verlegt, das vor 100 Tagen nach Brandstiftung von Flüchtlingen in Flammen aufging und seither unbewohnbar ist. «Wir wollen zusammen mal sehen, was hier in Kara Tepe los ist», sagte Minister Mitarakis den Reportern. Nach der Inspektion kam er zu einem erstaunlichen Urteil:
Das Lager befindet sich in einem sehr guten Zustand.
Das ist nicht nur Hohn für die Eltern des vergewaltigten Kleinkindes, sondern auch für die übrigen rund 7300 Bewohnern des Lagers, die bei Winteranbruch noch immer in ungeheizten Zelten ausharren müssen. 40 Prozent von ihnen sind Kinder.
Das provisorische Lager liegt direkt an der Küste, nur knapp über dem Meeresspiegel. Die Bewohner sind den Elementen schutzlos ausgesetzt. Heftige Regenfälle überfluteten das Lager bereits im Herbst zwei Mal. Auch damals kam Minister Mitarakis nach Lesbos und konstatierte: «Wir haben ein sauberes Lager, ein Lager mit Ordnung und Sicherheit.» Zwei Wochen später wurde Kara Tepe erneut von Wolkenbrüchen überflutet, der Wind zerfetzte einige Zelte..
Trotz der faktischen Nachrichtensperre über die Zustände im Lager, die die Regierung verhängt hat, und trotz des Ausgangsverbots für die Bewohner gelangen immer neue Details über die katastrophalen Lebensbedingungen an die Öffentlichkeit. Die Vergewaltigung der Dreijährigen zeige, «wie unsicher die Lebensbedingungen und wie mangelhaft die Schutzmassnahmen sind», stellt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fest. Thanassis Chirvatidis, der als Kinderpsychologe auf Lesbos arbeitet, berichtet: «Wir sehen Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Symptome von Depressivität.» Viele Bewohner hätten Suizidgedanken – auch viele Kinder.
Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, keine Kontakte knüpfen, und sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen.
Dreieinhalb Monate nach der Evakuierung von Moria, die europaweit für Entrüstung gesorgt hatte, wird jetzt erneut Kritik von aussen laut. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) etwa betonte am Wochenenden, man sei nach dem Brand in Moria davon ausgegangen, «dass die schrecklichen Zustände verbessert werden, aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus».
Müller sprach von «entsetzlichen Zuständen, mitten in Europa». Weil Babys in den Zelten von Ratten gebissen werden, habe die Organisation Ärzte ohne Grenzen jetzt in Kara Tepe eine Tetanus-Impfaktion gestartet. Er habe Flüchtlingscamps im Nordirak und Südsudan besucht, sagte der Minister, aber «nirgendwo herrschen solch schlimmen Zustände wie auf Lesbos».
Nicht viel besser sieht es auf der Insel Samos aus. Dort leben etwa 3500 Migranten zusammengepfercht in einem Camp, das für 648 Personen ausgelegt ist. Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen fordern seit langem, die Asylsuchenden in sichere Unterkünfte auf dem Festland oder in anderen EU-Staaten zu bringen. Minister Mitarakis vertröstet die Bewohner von Kara Tepe auf das nächste Jahr: Im Herbst 2021 soll auf Lesbos ein neues Migrantenlager fertig werden.