Armenien an der Schwelle zum Krieg: Was den Konflikt mit Aserbaidschan so gefährlich macht

Der Konflikt um die kleine Region Bergkarabach könnte sich zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei ausweiten.

Inna Hartwich aus Moskau
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Soldaten aus Aserbaidschan eröffnen das Feuer auf armenische Truppen: In der Region Bergkarabach droht ein Krieg.

Soldaten aus Aserbaidschan eröffnen das Feuer auf armenische Truppen: In der Region Bergkarabach droht ein Krieg.

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Es wird geschossen und niemand will angefangen haben. Armenien nicht, auch Aserbaidschan nicht. Seit Sonntagmorgen befinden sich die beiden Kontrahenten – wieder einmal – an der Schwelle zu einem neuen Krieg. Einer Auseinandersetzung, die auch die Nato beträfe, käme es zu einer Kettenreaktion, die über die Akteure der beiden Staaten hinausreichen.

Das Streitobjekt: Bergkarabach, die von beiden Staaten beanspruchte Region im Südkaukasus. Armenien hat den Kriegszustand ausgerufen, Aserbaidschan in einigen Teilen des Landes ebenfalls. Jerewan und Baku beschuldigen sich gegenseitig, zur Verschärfung der Lage, die seit bald 30 Jahren nie eine ruhige war, beizutragen.

Wilde Gesten in Richtung Baku: Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev droht dem Feind.

Wilde Gesten in Richtung Baku: Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev droht dem Feind.

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Unabhängige Berichte aus der Region gibt es nicht, was die Einschätzung der Lage nicht einfach macht. Gewisse militärische Vorbereitungen samt aggressiver Rhetorik der aserbaidschanischen Regierung stützen allerdings die Darstellung Armeniens, Aserbaidschan sei zum Angriff übergegangen.

Was Bergkarabach besonders macht

Warum aber gerade jetzt? Politisch pflegt Bergkarabach einen Zwitterstatus. Zu Sowjetzeiten war der «schwarze Garten» im Südosten des Kleinen Kaukasus ein autonomes Gebiet innerhalb der aserbaidschanischen Sowjetrepublik. Der Zusammenbruch der Sowjetunion aber förderte einen mehr als 100 Jahre alten Konflikt wieder zu Tage. Einen Streit, der sich um Geschichte, Territorien und Religion dreht. Die Armenier sind Christen, die Aseri Muslime.

1992 erklärte sich Bergkarabach für unabhängig, es war eine mit Gewalt errungene Emanzipation. 30000 Menschen starben bislang im Konflikt. Anerkannt ist die «Republik» bis heute lediglich von Staatsgebilden, die selbst international nicht anerkannt sind. Völkerrechtlich ist die Region ein Teil Aserbaidschans. Bewohnt aber wird sie in grossen Teilen von Armeniern. In praktischen Fragen, von der Währung bis zur Telefonvorwahl, ist sie Teil Armeniens. Die offiziell 150000 Einwohner werden alle aus Armenien versorgt.

Eingefroren war der Konflikt nie, Wissenschafter beschreiben ihn als verschleppten Konflikt, bei dem beide Seiten sich mittlerweile hochgerüstet haben. Die Aseri sind ungeduldig geworden. Die Bemühungen um eine Friedenslösung stocken, währenddessen schafft Armenien Fakten, baut eine dritte Strasse nach Bergkarabach.

Die derzeitigen Auseinandersetzungen könnten weit über Bergkarabach hinausreichen und zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei werden, ähnlich wie in Syrien und Libyen. Beide verstehen sich als Schutzmächte in der Region. Die Türken auf der Seite der Aseri, die Russen auf der Seite der Armenier.

«Wenn die Verschärfung der Lage mehr als drei Tage andauert, können wir über einen vollumfänglichen Krieg reden. Es wäre eine Katastrophe, weil es die gesamte Nordkaukasusregion erschüttern würde», so die Einschätzung des Kaukasus-Experten der russischen Diplomatenkaderschmiede MGIMO, Wadim Muchanow.