Culturescapes Tokio
Das japanische Puppentheater: Eine Sensation und eine Rarität

Das Kulturfestival eröffnete am Samstagabend mit einer Schweizer Premiere: dem Puppentheater Bunraku. Ein Theaterstück indem die darin erzählte Geschichte und die Musik im 18. Jahrhundert festgelegt wurden.

Susanna Petrin
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Für jede Puppe braucht es im Bunraku drei Männer, die sie führen – zwei von drei verstecken sich hier bei der Schweizer Premiere am Theater Basel unter schwarzen Kapuzen.

Für jede Puppe braucht es im Bunraku drei Männer, die sie führen – zwei von drei verstecken sich hier bei der Schweizer Premiere am Theater Basel unter schwarzen Kapuzen.

Juri Junkov/Fotograf

Hoffentlich haben sie es mitbekommen und waren dabei: Am Samstagabend ist im Theater Basel der Traum all jener Theatergänger in Erfüllung gegangen, die sich über zeitgenössische Interpretationen von Klassikern beklagen und sich wünschten, beispielsweise «eine Oper wieder einmal in alter Form, d. h. in den Kostümen der Zeit der ursprünglichen Handlung zu sehen» – das forderte etwa SVP-Grossrat Oskar Herzig vor einem Jahr in einem Vorstoss.

Die Japaner haben es geschafft, die Aufführungspraxis ganzer Theatergattungen vor ein paar hundert Jahren in einer Zeitkapsel einzufrieren. Zum Beispiel das klassische japanische Puppentheater, das Bunraku: Die darin erzählten Geschichten, die Bewegungen und die Musik sind im 18. Jahrhundert festgelegt worden. Seither werden Auszüge aus den rund 100 überlieferten Bunraku-Werken immer wieder möglichst genau so aufgeführt wie anno dazumal. Dieses Theater ist ein hochstilisiertes Ritual. Einen Regisseur braucht es dafür nicht, dafür Puppenführer, Rezitatoren und Musiker, die ihre Kunst perfekt beherrschen.

Eine Theaterkritikerin in unserem Sinn braucht es für diese Kunstform eigentlich auch nicht. Erst recht nicht, wenn ihr der Vergleich zu anderen Bunraku-Aufführungen fehlt. Was sicher gesagt werden kann: Das allererste Schweizer Gastspiel der japanischen Bunraku-Gesellschaft aus Osaka war ein für uns Europäer sehr ungewohntes, besonderes Theater-Erlebnis.

Nicht für Kinder geeignet

Das Bunraku-Puppentheater ist nicht für Kinder. Das liegt zum einen am Stoff: Die drei für Basel ausgewählten Geschichten drehen sich typischerweise um die Liebe zwischen Mann und Frau. Die weiblichen Figuren setzen sich für die Liebe höchsten Gefahren aus; wenn nötig stürzen sie sich sogar in den Tod. In der «Wundertat des Bodhisattva Kannon Tsubosaka» springt der pockennarbige, blinde Ehemann von einem Felsvorsprung in die Tiefe, um seiner Frau keine Last mehr zu sein. Sie springt aber hinterher. Ihre Treue und Hingabe erweicht das Herz des Gottes Kannon: Er erweckt beide wieder zum Leben und macht den Mann sehend.

Vor allem ist dieses Theater aber nicht für Kinder, weil nur Erwachsene dessen Kunstfertigkeit ganz erfassen und schätzen können. Es gilt als «ernsthaftes Ausdrucksmittel für schöpferische Künstler», wie Peter Pantzer in «Japanische Theater, Tradition und Gegenwart» schreibt, und wird als «die höchste Puppenspielkunst in der Welt» (Lydia Brüll im gleichen Band) angesehen. 2005 wurde es in die Unesco-Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen, manche Spieler sind «lebende Kulturschätze».

Einer von ihnen, Kiritake Kanjuro, ist bei dieser ersten Schweizer Tournee dabei. Mit 14 Jahren fing er mit dem Puppenspiel an: Zuerst habe er 15 Jahre nur die Puppenfüsse operiert, dann zehn Jahre lang die linke Hand, bis er zum Führer der rechten Hand und des Kopfs aufstieg, wie in einem Artikel der «Japan Times» zu lesen ist. Für die feinen Bewegungen der bis zu 1,20 Meter grossen Wesen braucht es jeweils drei Spieler. Manche Puppen können den Mund öffnen oder die Brauen hochziehen. In Basel konnte man zusehen, wie sich die schöne Kiyohime in ihrer Eifersucht zu einem Dämon verwandelte.

Mindestens so angesehen wie die höchsten Puppenspieler sind manche Rezitatoren. Ein Mann, in Basel im letzten Teil von zwei weiteren begleitet, erzählt die Geschichte und spricht sämtliche Figuren. Die Bandbreite seiner Tonlage und Intonation ist eindrücklich, die starke, aber gebrochene Stimme für uns ungewohnt. Ein «in langer Übung antrainiertes Stimmideal», heisst es im Programmheft.

Der Rezitator sitzt neben einem oder mehreren Musikern in einer Reihe auf der Seite der Bühne. Im Minimum begleitet ihn ein Spieler der japanischen Laute, der Shamisen. Sie wird – ein interessantes Detail aus dem Programmheft – im Bunraku bevorzugt mit Hundehaut überspannt, diese erzeuge einen kräftigeren Ton als Katzenhaut.

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dauerten Bunraku-Vorstellungen rund zehn Stunden, sie begannen oft schon um 7.30 Uhr in der Früh. Das Publikum ging ein und aus; es war in Ordnung, im Theatersaal zu essen und zu trinken. Diese zeitintensive originale Praxis musste sich aber selbst in Japan der arbeitsintensiven Realität anpassen.

Wer sich kommende Vorstellungen anschauen will, dem seien die vordersten Plätze empfohlen – oder ein Operngucker. Doch auch wenn man ganz nah sitzt, emotional nah geht dieses Spiel wohl nur mit der Kultur bereits Vertrauten. Etwa Herbert Haag, dem Präsidenten der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft; er hat laut seiner Eröffnungsrede drei Jahre alles darangesetzt, Bunraku in die Schweiz zu holen. Dem Kulturfestival Culturescapes, das sich heuer Tokio widmet, ermöglichte er eine besondere Eröffnung. Von jetzt an wird das Festivalprogramm moderner, aber kaum weniger interessant.

www.culturescapes.ch