1977 ging in Lenzburg ein Exhibitionist um, die Freisinnigen verloren erstmals seit Menschengedenken das Bezirksgerichtspräsidium und ein Erbstück der Stadtgeschichte wurde in Monaco zurückersteigert. Diese Rückblende führt aber auch noch weitere 270 Jahre zurück.
Wie kuschlig die heutige Justiz ist, darüber lässt sich streiten. Sicher ist: Vor 270 Jahren ist sie alles andere als das. Mit der Gerichtsbarkeit im Jahr 1752 beschäftigt sich ein Artikel im Lenzburger Neujahrsblatt zum Jahr 1977.
Autor Konrad Bünzli beschreibt den Fall von Elisabeth Kieser. Ihr Neffe stirbt 1752 mit nur 18 Monaten und seine Geschwister leiden unter Schwindel und müssen sich erbrechen. Das ruft den Sohn einer Ladenbesitzerin auf den Plan: Kieser habe Zuckerbrote gekauft. Die Eltern des toten Knaben verweigern zwar eine Obduktion, dennoch kommt der Verdacht auf, die Kinder seien vergiftet worden. Wohl auch, weil Kieser früher im Jahr Arsen gekauft hat.
Sie wird befragt. Autor Bünzli beschreibt das damalige Beweisverfahren so: In einer ersten Runde bleibt es tatsächlich bei einer Befragung. Bei der zweiten Examination aber wird die Folter nicht nur angedroht, sondern oft auch schon angewandt. Einziges Ziel der Inquisitoren ist, ein Geständnis zu erhalten.
Und siehe da: Erst sagt Elisabeth Kieser aus, sie habe die Zuckerbrote unglücklicherweise in der Tasche transportiert, in der auch das Arsen gewesen war. Bei der zweiten Befragung hingegen sagte sie, sie habe die Brote selber aufgeschnitten und das Gift beigegeben, «da sich die Kinder ihr gegenüber nicht artig benommen hätten». Das Blutgericht entscheidet, dass der Scharfrichter sie «auff Unserer gewohnten Richtstatt mit dem Schwert vom leben zum tod hinrichten und den Körper an schmächlichem orth under dem Hochgericht verscharren» soll.
Ein gnädiger Tod, wenn man die Alternativen betrachtet, die der Autor des Artikels beschreibt. Kindsmörderinnen werden zu dieser Zeit üblicherweise ertränkt. Sie werden an Händen und Füssen gefesselt und ins Wasser geworfen - oder aber zuerst in einen Sack eingenäht und dann ertränkt. Kindsverderberinnen, Mörderinnen und Vergifterinnen wiederum werden lebendig begraben.
Der Justiz geht es offenbar vor allem um das Ergebnis. Denn, so schreibt der Autor, es bleiben viele Fragen offen. Beispielsweise jene nach Kieser's Motiv. Und jene danach, wie gross die beschriebene «Einfalt »der Delinquentin ist.
270 Jahre später sind Unglücksfälle und Verbrechen noch immer Thema. In jedem Monat des Neujahrsblatts finden sich unter dem Titel «Unglücksfälle und Verbrechen» mehrere Ereignisse.
Im Januar etwa verurteilt das Bezirksgericht einen Bankbeamten, der 470'000 Franken veruntreut hat, zu eineinhalb Jahren Gefängnis, aber bedingt erlassen auf fünf Jahre. Im Februar treibt ein Exhibitionist auf der Bahnhofstrasse sein Unwesen – wohl derselbe Mann, der im Juni erneut blank zieht und Frauen belästigt. Im Mai und im Juni wird in der Bahnhofsunterführung gewirkt: Erst schlagen Unbekannte die Scheibe eines Zigarettenautomaten ein, dann werden drei Gitarren aus einem Schaukasten gestohlen. Zweimal entweichen in diesem Jahr jeweils zwei Häftlinge aus der Strafanstalt (nicht bekannt ist, ob es dieselben sind): Im Juni fliehen sie von der Arbeit auf einem Feld der Hero – im November übersteigen sie mit einer selbst gebastelten Strickleiter die Gefängnismauer.
Und dann ist da noch der Mann, der Riesenglück hatte: Sein Auto wird bei der Wisa Gloria von der Seetalbahn erfasst. Das Fahrzeug wird total beschädigt - der Mann erleidet nur einen Achselbruch und Schürfungen.
Auch nicht-Verbrecherisches findet im Jahr 1977 statt. Im Februar beispielsweise kann das Heimatmuseum ein Erbstück der Stadtgeschichte zurück nach Lenzburg holen: Es ersteigert in Monaco einen Kachelofen des Manufakturbetreibers Jakob Frey.
Im April probten der in Lenzburg aufgewachsene Musiker Pepe Lienhard und sein Sextett im Kronensaal eine neue Show - die Musiker werden in diesem Jahr die Schweiz am Grand Prix Eurovision in London vertreten.
Im Juni wird der Bezirksgerichtspräsident gewählt. Ulrich Siegrist von der SVP macht das Rennen, «somit verlieren die Freisinnigen erstmals seit Menschengedenken dieses Mandat an eine andere Partei», heisst es im Neujahrsblatt.
Eine Notiz im Dezember lässt schmunzeln: «Die Lenzburger Rathaus-Fassade feiert ihren 300. Geburtstag und überlebt damit wohl das meiste, was dahinter beschlossen wurde.»
Regelmässig werfen wir einen Blick in die Chroniken der Lenzburger Neujahrsblätter – dieses Mal das Jahr 1977 betreffend. Wir schauen, was die Stadt und das Umland vor 20, 45, 50 oder 70 Jahren bewegt hat, und zeigen hübsche Trouvaillen zum Kichern, zum Ärgern oder zum Besserwissen.