KESD
Die Zukunft beginnt mit 66 Jahren

Wie der KESD arbeitet (I) Eine Rentnerin hat ihr Leben nicht mehr im Griff und verwahrlost.

Toni Widmer
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Offene Rechnungen und Betreibungen treiben eine Rentnerin zur Verzweiflung. Sie muss eine neue Bleibe suchen (Symbolbild).

Offene Rechnungen und Betreibungen treiben eine Rentnerin zur Verzweiflung. Sie muss eine neue Bleibe suchen (Symbolbild).

Getty Images/iStockphoto

Die 66-jährige Frau ist geschieden und lebt allein in der Wohnung, die sie mit ihrem Ex-Mann seinerzeit gekauft hat. Doch sie muss sich eine neue Bleibe suchen. Wegen offener Rechnungen und Betreibungen hat ihr die Bank die Hypothek gekündigt. Zudem steht ein Gefängnisaufenthalt bevor. Die alkoholkranke Frau hat eine Busse nicht bezahlen können, und deshalb ist diese in eine Haftstrafe umgewandelt worden. Sie hat ihr Leben alleine nicht mehr im Griff, die Behörden müssen helfen.

Es ist November, als die Frau erstmals Besuch vom KESD bekommt. Man informiert sie darüber, dass eine Beistandschaft errichtet wird und für sie eine neue Wohnung gesucht werden muss. Die Klientin ist völlig verwahrlost und kann auch ihre Situation kaum nachvollziehen. Immer wieder fragt sie nach, was denn überhaupt los sei. Von offenen Rechnungen und Hypothekarausständen will sie nichts wissen.

Frau droht mit Suizid

Die Frau reagiert teilweise verwirrt, in klaren Momenten wirkt sie jedoch intelligent, liebenswürdig und zeigt sogar Humor. Der drohende Auszug aus der Wohnung ist für sie schlimm. Sie wolle hierbleiben, sagt sie. Bevor sie diese Wohnung verlassen müsse, bringe sie sich um.

Der Amtsarzt wird eingeschaltet. Wegen der mehrfachen Suizid-Androhungen kann die Frau im persönlichen Gespräch mit ihrem Berufsbeistand davon überzeugt werden, freiwillig in eine psychiatrische Klinik einzutreten. Der Amtsarzt empfiehlt, die Frau danach nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren zu lassen.

Jetzt wartet viel Arbeit auf den Berufsbeistand. Er muss organisieren, dass mit einem Arztzeugnis dem Amt für Justizvollzug bescheinigt wird, dass die Frau ihre Haftstrafe aus medizinischen Gründen nicht antreten kann. Er muss mit den Angehörigen zusammen dafür sorgen, dass der Briefkasten geleert und die Post umgeleitet wird.

Das Auto muss verkauft und die Wohnung geräumt werden. Staatsanwaltschaft, Strassenverkehrsamt, Gemeinde, Krankenkasse, Versicherungen und Betreibungsamt müssen kontaktiert werden. Es geht darum, für offene Rechnungen einen Zahlungsaufschub zu erreichen und/oder kleinere Ausstände womöglich zu begleichen.

Die Wohnung muss geräumt, die Möbel zwischengelagert und die wichtigen persönlichen Gegenstände aufbewahrt werden. Es braucht eine Mulde, um Unbrauchbares zu entsorgen. Der Telefonanschluss muss gekündigt werden, der Kabelanschluss ebenso. Der Berufsbeistand sucht einen Makler, der die Wohnung verkauft.

Rekurs gegen Massnahme

Es ist Dezember. Nach 12 Tagen in der psychiatrischen Klinik hat die Frau genug und will nach Hause. Es gibt ein Hin und Her. Der Amtsarzt wird eingeschaltet, denn angesichts der aktuellen Verfassung der Frau wird jetzt eine fürsorgerische Unterbringung ins Auge gefasst. Dafür braucht es eine Kostengutsprache und einen Gerichtsbeschluss. Auch das muss der Berufsbeistand organisieren. Und auch eine Zwischenlösung in der Klinik. Denn die will dem Drängen der Frau um Entlassung vorerst nachgeben. Zumal sich ihr Zustand etwas gebessert hat und sie nach Ansicht der behandelnden Ärzte nicht mehr akut
suizidgefährdet ist.

Die Situation wird schwierig. Die Frau will nach Hause, wehrt sich mit einem Rekurs gegen eine fürsorgerische Unterbringung, kann sich nicht mehr an frühere Abmachungen erinnern und droht immer wieder mit Suizid. Sie ist weder kooperativ noch einsichtig. Unter Beizug des Sozialdienstes der Klinik wird nach einer geeigneten Unterkunft für die Frau gesucht.

Das Obergericht weist den Rekurs der Frau gegen den fürsorgerischen Freiheitsentzug ab, der Berufsbeistand hat an der Verhandlung als Zeuge aussagen müssen. Die Frau muss in der Klinik bleiben, bis eine Unterkunft in einer geeigneten Institution gefunden ist. Beim Gericht wird der Antrag gestellt, die Wohnung definitiv räumen und verkaufen zu dürfen.

Es ist Februar geworden. Die 66-Jährige hat die psychiatrische Klinik verlassen und in einer betreuten Umgebung eine neue Bleibe gefunden. Sie fühlt sich dort einigermassen wohl. Sie kann ihre kreative Ader ausleben und hat Tiere um sich, die sie mag und die ihr etwas Halt geben. Doch sie will immer noch nach Hause. Es braucht mehrere und lange Gespräche, bis der Berufsbeistand sie davon überzeugt hat, dass das nicht mehr möglich ist.

Die Situation beruhigt sich stetig

Was passiert mit der Wohnungseinrichtung? Soll die Frau vor Ort entscheiden, was veräussert und was weggeworfen werden soll, oder ist es besser, wenn sie das an ihrem Aufenthaltsort anhand von Dokumentationen macht? Wieder sind auch verschiedene organisatorische Fragen zu klären – Versicherungen, Kostengutsprache bei der Gemeinde, Abklärungen mit der Gebäudeversicherung wegen alter Schäden in der Wohnung.

Das Nähatelier, das die Frau früher betrieben hat, muss aufgelöst, die umfangreichen Bastelutensilien müssen verkauft oder entsorgt werden. Immer wieder trifft sich der Berufsbeistand mit der Frau in ihrem neuen Heim, um diese und andere Angelegenheiten zu besprechen.

Es ist Oktober. Seit dem ersten Kontakt des KESD mit der Frau ist fast ein Jahr vergangen. Sie ist am neuen Ort angekommen und fühlt sich einigermassen daheim. Ihre gesundheitliche Verfassung hat sich zum Guten gewandelt, sie äussert keine Suizid-Gedanken mehr. Eine Rückkehr nach Hause ist kaum mehr Thema.

Doch auf den Berufsbeistand wartet noch immer viel Arbeit. Die Wohnung der Frau ist noch nicht verkauft, die finanzielle Situation der Klientin ebenfalls noch nicht restlos bereinigt. Doch der bisherige grosse Aufwand hat sich gelohnt. Die Lebensumstände der 66-jährigen Frau haben sich positiv verändert und die Zusammenarbeit von Klientin und Berufsbeistand ist mittlerweile von einem tiefen Vertrauensverhältnis geprägt.