Uf Wiederluege Aargau (4)
Von Untersiggenthal nach Freiburg den Sprachen zuliebe: Warum dieser Professor nicht in den Aargau zurückkehren will

In Freiburg hat Raphael Berthele sein ideales Zuhause gefunden. Der Professor für Mehrsprachigkeit erklärt gegenüber der AZ, wieso er die Entscheidung, den Aargau zu verlassen, nicht bereut hat.

Nicole Caola
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Der Aargauer Professor für Mehrsprachigkeit, Raphael Berthele, fand in Freiburg sein Zuhause.

Der Aargauer Professor für Mehrsprachigkeit, Raphael Berthele, fand in Freiburg sein Zuhause.

Nicole Caola

Die Leidenschaft für die französische Sprache steckt schon in seinem Namen – könnte man meinen. Obwohl Berthele französisch tönt, sei es nicht klar, woher der Nachname kommt, erklärt uns der Professor für Mehrsprachigkeit am Anfang unseres Treffens in Freiburg. Etwas merkwürdig sei auch der Akzent auf dem letzten «e»: «In meinen offiziellen Dokumenten wurde der accent aigu nie verwendet».

Solange Raphael Berthele im Aargau wohnte, spielte es für die richtige Betonung keine Rolle. Doch seitdem er im französischen Sprachraum lebt, wird sein Name tatsächlich oft falsch ausgesprochen. Vor ein paar Jahren sei es jemandem an der Universität in Freiburg aufgefallen: «Plötzlich wurde <Berthele> in der Datenbank mit Akzent eingetragen», sagt er lächelnd. Französisch oder nicht, mit Akzent oder ohne: Tatsache ist, er liebt diese Sprache.

Aufgewachsen ist Raphael Berthele in Untersiggenthal. Zu Hause wurde immer nur Schweizerdeutsch gesprochen, aber Sprachen fand er schon als Kind faszinierend. Das Lesen und das Schreiben waren seine grössten Leidenschaften, neben der Musik. Seine Mutter war Cello-Lehrerin und sein Vater war als Hobby-Musiker ebenfalls sehr aktiv. Dank ihnen fing er an, Geige und Bratsche zu spielen, und entdeckte schon früh die Orchesterwelt.

Uf Wiederluege Aargau – die Serie

In der Serie «Ufwiderluege Aargau» erzählen Aargauer und Aargauerinnen gegenüber der AZ, wieso sie in einen anderen Kanton ausgewandert sind und was sie am Aargau vermissen. Mit einem Fokus auf die vier Sprachregionen berichten wir aus dem Tessin, aus Graubünden, Freiburg und St.Gallen.

Ein intensives Studentenleben

Ansonsten sei seine Kindheit im Aargau «ganz unspektakulär» gewesen, meint er. Er besuchte die Bezirksschule in Turgi und die Kantonsschule in Baden. «Nach der Kanti wollte ich Journalist werden und die Welt verbessern», lacht er. Als er erfuhr, dass man in Freiburg Journalismus, Kommunikation und Germanistik studieren konnte, überlegte er nicht lange. 1989 entschied er sich für diese Stadt, unter anderem auch wegen der Zweisprachigkeit.

Die ersten Monate seien hart gewesen. Glücklicherweise hatte er einen guten Orchesterkollegen an seiner Seite, auch aus dem Aargau. «Zuerst haben wir in einem ganz komischen Studentenheim gewohnt, dann haben wir eine eigene WG gegründet»: Es war immer was los und er habe diese Zeit sehr genossen. Von der Stadt war er zutiefst fasziniert: Freiburg war zwar nicht gross, aber schon damals sehr lebendig und kosmopolitisch.

Zur Person

Raphael Berthele ist Ordentlicher Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität in Freiburg und Mitglied des Direktoriums des Freiburger Instituts für Mehrsprachigkeit. Der 53-Jährige ist in Untersiggenthal aufgewachsen und hat Journalismus, Kommunikation und Germanistik in Freiburg studiert, wo er seit 1989 wohnt. Mit Unterbrüchen: Er verbrachte unter anderem er ein Jahr in Tübingen und ein Jahr an der University of Berkeley in Kalifornien. Nach der Rückkehr nach Freiburg verfasste er seine Dissertation zum Thema Mehrsprachigkeit und erhielt die Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) an der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen sind: Mehrsprachigkeit (Interkomprehension, rezeptive Fertigkeiten), kognitive Linguistik, Variationslinguistik. (az)
Bild: Nicole Caola
Raphael Berthele ist Ordentlicher Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität in Freiburg und Mitglied des Direktoriums des Freiburger Instituts für Mehrsprachigkeit. Der 53-Jährige ist in Untersiggenthal aufgewachsen und hat Journalismus, Kommunikation und Germanistik in Freiburg studiert, wo er seit 1989 wohnt. Mit Unterbrüchen: Er verbrachte unter anderem er ein Jahr in Tübingen und ein Jahr an der University of Berkeley in Kalifornien. Nach der Rückkehr nach Freiburg verfasste er seine Dissertation zum Thema Mehrsprachigkeit und erhielt die Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) an der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen sind: Mehrsprachigkeit (Interkomprehension, rezeptive Fertigkeiten), kognitive Linguistik, Variationslinguistik. (az)

Neben dem Studium arbeitete er weiterhin als freier Journalist. Die Sprachwissenschaft hatte ihn aber eigentlich schon seit langem erobert: Sobald er die Chance bekam, als Assistent bei seinem ehemaligen Professor für germanistische Linguistik zu arbeiten, nahm er dieses Stellenangebot an und verabschiedete sich definitiv vom Journalismus.

So startete seine akademische Karriere: Er verfasste eine Dissertation zum Thema Mehrsprachigkeit, erforschte die psychologische Komponente der Sprache an der University of Berkeley, in Kalifornien, und, als er nach Freiburg zurückkam, unterrichtete Deutsch als Fremdsprache und arbeitete Teilzeit in mehreren Instituten. Später erhielt er die Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) an der Universität Bern.

Zurück in den Aargau war kein Thema

Wegen seines akademischen Karriereaufstiegs, sei die Idee, zurück in den Aargau zu ziehen, nie ein Thema gewesen. Auch wenn seine Familie immer noch dort lebt. Am Aargau vermisse er nichts: Das Zusammenleben von Frankofonen und Deutschsprachigen in Freiburg sei für ihn unersetzbar. «Deutschsprachige sind hier ausnahmsweise in der Minderheit. Das generiert auch Spannungen. Aber Fragen wie ‹Welche ist in welchem Kontext die legitime Sprache?› oder ‹Wer ist genau in der Minderheit?› sind für mein Forschungsgebiet hochinteressant», erklärt er.

Raphael Berthele verbrachte ein Jahr an der University of Berkeley in Kalifornien.

Raphael Berthele verbrachte ein Jahr an der University of Berkeley in Kalifornien.

Bild: Nicole Caola

Ausserdem habe er die perfekte Kombination von Stadt, mit einem breiten kulturellen und gastronomischen Angebot, und Natur gefunden. In seiner Freizeit ist er oft in den Bergen. Er wandert gern, fährt Mountainbike und geht auf Skitouren: «Ich bin schnell in den Voralpen und im Gantrisch Gebiet. Diese Regionen sind fantastisch und erfreulicherweise wenig überlaufen», sagt er.

Wegzugehen sei für ihn eine bewusste Entscheidung gewesen. «Die Kontakte im Aargau habe ich bewusst nicht gepflegt, weil ich nicht jedes Wochenende zurückfahren wollte», sagt er. Für ihn sei Freiburg weit und anders genug gewesen, um mit einem neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

Unterschiede zwischen Aargau und Freiburg

Zunächst merkte er keine grossen kulturellen Unterschiede zwischen den zwei Kantonen. Doch mit der Zeit, als er sich mit der Lokalkultur beschäftigte, fiel ihm auf, wie stark die katholische Identität in Freiburg verankert war. «Natürlich ist auch der Aargau teilweise katholisch geprägt, etwa im Freiamt. Aber hier war das viel präsenter», erzählt er. So kamen traditionellerweise mehrheitlich Studenten aus den katholischen Gebieten, wie aus dem Wallis, der Zentralschweiz, dem Tessin oder der Surselva nach Freiburg. In den letzten Jahren haben sich Uni und Stadt aber auch diesbezüglich stark verändert.

Ganz anders sei auch die Medienkultur: «Es tönt fast wie ein Klischee, aber der Platz für Humor und Satire in den Medien ist völlig anders: Im welschen Radio gibt es täglich satirische Sendungen und wird viel mehr gesprochen. Dagegen wird in der Deutschschweiz hauptsächlich Musik gespielt», sagt er.

Was er am Aargau nach wie vor gut findet, seien die wirtschaftlichen Perspektiven: «Vor Kurzem habe ich an einem Klassentreffen von der Kanti Baden teilgenommen. Es war total spannend zu hören, was meine ehemaligen Schulkameraden jetzt beruflich machen. Im Aargau hat man offensichtlich ein vielfältiges berufliches Entwicklungspotenzial.»

Wenn er heute, nach so vielen Jahren an den Aargau zurückdenkt, denkt er vor allem an die Sprache. Der Aargau sei der einzige Ort auf der Welt, «wo d lüüt ‹normal› redet, so wien ich!», lacht er. Seine Kinder, die zweisprachig aufgewachsen sind, finden sein Aargauerdeutsch lächerlich. Aber seinen Dialekt habe er nie anpassen wollen: «Ich habe mich sicher stark verändert seit meiner Aargauer Zeit, aber mein Aargauer Dialekt blieb stehen wie ein Fels in der Brandung.»