Kolumne
«Manche halten sich so sehr für etwas Besseres als andere, dass sie dadurch grossen Schaden anrichten können»

Die ukrainische Journalismusstudentin schreibt in ihrer Kolumne über Krieg, Eroberungen und Schimmel, der die Mammuts überlebt hat.

Vitalina Kantseliarenko*
Vitalina Kantseliarenko*
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Vitalina Kantseliarenko hat in der Ukraine Journalismus studiert. Wegen des Krieges arbeitet sie nun in Attelwil auf dem Bauernhof.

Vitalina Kantseliarenko hat in der Ukraine Journalismus studiert. Wegen des Krieges arbeitet sie nun in Attelwil auf dem Bauernhof.

Valentin Hehli

Die Welt steht nicht still. Allmählich verändert sich alles – das Alte stirbt aus, das Neue kommt. Mein Lehrer an der Universität sagte einmal einen Satz, der mir immer noch im Gedächtnis geblieben ist: «Das Mammut ist ausgestorben; Schimmel hat überlebt.» Ein Denkanstoss; etwas, das jeder anders interpretieren kann.

Meiner Meinung nach macht die Fähigkeit, sich an Veränderungen in der Umwelt anzupassen, das Gleichgewicht immer wieder zu finden, mit dem Strom der Zeit mitzuschwimmen und in schwierigen Situationen den richtigen Ausweg zu finden, das Überleben erst möglich. Der Mensch sollte diese Fähigkeiten auf jeden Fall haben – aber moderat. Denn ansonsten löscht der Selbsterhaltungstrieb die Menschlichkeit im Gehirn aus.

Zur Person

*Vitalina Kantseliarenko (20)

*Vitalina Kantseliarenko (20)

ist Journalismusstudentin aus Kiew. Sie musste vor dem Krieg flüchten. Aktuell lebt und arbeitet sie auf einem Bauernhof in Attelwil. Hier lesen Sie mehr.

Mammuts sind grosse Tiere, die stark und mächtig aussehen – aber haben sie überlebt? Nein. Auch einst starke und mächtige Menschen treten unter gewissen Umständen mit der Zeit in den Hintergrund. Oft schafft die Gesellschaft Rahmen, bildet Grenzen und Bewusstsein, stellt alle in eine Reihe – und wer nicht dazugehört, wird verurteilt und ausgegrenzt. Anpassungswillige finden Wege, in diesem Konstrukt auf parasitäre Weise zu überleben – so wie Schimmelpilze einen Pfirsich finden. Sie bleiben dort entweder klein und fast unbemerkt oder sie wachsen zu ungeahnter Grösse heran.

Nehmen wir das Beispiel der Konquistadoren und der Indianer. Indianer – die indigene Bevölkerung Amerikas – haben durch die Kolonisatoren grossen Schaden erlitten: Die spanisch-portugiesischen Konquistadoren haben sie über Jahrhunderte fast ausgerottet. «Mammuts» kamen, um mit Waffen zu kämpfen, die der «Schimmel» nicht einmal kannte. Gekleidet in Rüstungen und mit Schusswaffen in der Hand gegen Halbnackte mit Messern, Pfeilen und was man sonst noch so alles herstellen kann.

Dennoch gelang es den Konquistadoren nicht, die Kultur der Indianer vollständig auszurotten. Die Indianer sind nie mit der Zeit gegangen. Sie haben sich nur so weit den ihnen von der neuen Gesellschaft diktierten Bedingungen angepasst, wie es gerade nötig war, um zu überleben. Können Sie sich eine Person mit dem Namen «Wilder Falke» hinter dem Steuer eines Ford vorstellen?

Worunter leiden wir Ihrer Meinung nach am meisten? An mangelnder moralischer oder physischer Stärke? Für mich ist das Schlimmste die menschliche Überlegenheit und Überheblichkeit. Darunter verstehe ich das Gefühl eines Menschen oder einer Gruppe, dass sie eine führende Rolle gegenüber jemand anderem einnehmen können. Ein Gefühl, das Recht zu haben zu führen, zu befehlen und zu fordern. Manchmal ein Gefühl der Macht nicht nur über eine Person, sondern auch über eine ganze Nation oder sogar die Welt.

Manche halten sich so sehr für etwas Besseres als andere, dass sie dadurch grossen Schaden anrichten können. Mir scheint, dass man viele Kriege mit dieser gefühlten Vorherrschaft, diesem Bessersein zu legitimieren versuchte – einschliesslich des Krieges, der heute stattfindet.

Auf die eine oder andere Weise ist der Mensch ständig auf der Suche nach Anpassungsmöglichkeiten, manchmal geht er mit dem Strom, manchmal gegen ihn. Manche wollen sich verbessern, entwickeln – und andere wollen zerstören. So oder so: Noch hat niemand das Prinzip der natürlichen Auslese aufgehoben. Also müssen wir in der Lage sein, in uns selbst Mammut und Schimmel zu vereinen.